Ich hörte Lizzie so angestrengt zu, dass ich mit dem Rühren aufgehört hatte und sie nun auf meinen Holzlöffel zeigte. »Oh, tut mir leid«, sagte ich und fing wieder an, Achten zu rühren. Und zwang mich zu der Frage: »Ist da noch mehr?«
Sie suchte meinen Blick. »Ich habe noch nie darüber gesprochen«, sagte sie. »Mit keinem Menschen. Aber vielleicht hilft es Paige – und dir.« Lizzie seufzte, den Blick auf die Flüssigkeit gerichtet. »Natürlich kamen die Depressionen zurück, und diesmal noch schlimmer als nach Annies Geburt. Der Arzt verschrieb ihr schließlich ein Antidepressivum, aber Paige schüttete die Pillen ins Klo, was Joe noch viel mehr verstörte. Doch sie hatte Angst, Zach zu schaden. Denn das Einzige, was sie schaffte, war Zach zu stillen, aber sie tat es mit einer … ich weiß nicht, wie ich es nennen soll … teilnahmslosen Entschlossenheit. Sie stillte ihn nach einem festen Zeitplan, ohne ihn dabei anzusehen oder zu streicheln. Irgendwann sagte ich zu Joe: ›Sie muss unbedingt in eine Klinik‹. Er sah mich entsetzt an. Er steckte so sehr mittendrin, dass er schon nicht mehr klar sehen konnte, und sagte: ›Nein, das wird schon wieder – wir müssen nur die ersten vier Monate durchstehen, wie bei Annie.‹ Ich widersprach: ›Diesmal ist es anders.‹ Kurz darauf erklärte mir Paige, sie müsse sich von Annie und Zach fernhalten. Ich weiß noch, dass es ein Samstag war und ich die Kinder mit zu mir nach Hause genommen hatte. Sie waren so lange bei mir, bis Joe den Laden zugemacht hatte und sie abholte. Ich erzählte ihm, was sie mir gesagt hatte, und jetzt nahm er es ernst. Aber am nächsten Tag war sie verschwunden.«
»Hast du danach noch etwas von ihr gehört?«
Lizzie schüttelte den Kopf. »Ein einziges Mal. Ich habe ihr geschrieben, wollte mit ihr in Verbindung bleiben, aber sie hat nie geantwortet.«
Lizzie atmete tief durch. »Wow, vermutlich musste das alles mal raus.« Sie blickte hinauf zu den Dachsparren, wollte anscheinend noch etwas hinzufügen, zögerte aber. Schließlich sagte sie: »Nach Joes Tod hat Frank mir erzählt, dass Joe ihm einmal anvertraut hatte, von Paige Briefe bekommen zu haben, die er aber nie geöffnet hatte. Die Mutter seiner Kinder hatte versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen, doch er hatte es ignoriert. Und kurz vor seinem Tod hatte Joe Frank erzählt, dass Paige ihn angerufen hatte. Sie wollte eine neue Sorgerechtsregelung. Er sagte, dass er mit dir darüber reden müsse – dass es ihn davor wirklich grause.«
Ich ließ den Rührlöffel los und vergrub das Gesicht in den Händen. Ich erinnerte mich genau an jene Nacht. Wir hatten das Gespräch nicht geführt, weil mir nicht danach gewesen war. Wir hatten das letzte Mal miteinander geschlafen, und ich wollte mein Glücksgefühl auskosten und lieber bis zum nächsten Tag warten. »Also gut, dann morgen«, hatte er gesagt und mit dem Finger auf meine Nase getippt.
Morgen …
Lizzie berührte meine Schulter. »Tut mir leid«, sagte sie. »Aber du darfst mit dem Rühren nicht aufhören. Du kannst mich jetzt nicht damit allein lassen.« Die Farbe der Flüssigkeit war von Dunkelgold in Creme übergegangen, und die Konsistenz erinnerte mich wirklich an Fondue. Wir schleppten die Töpfe zurück in die Scheune, wo Lizzie gleich in der Dunkelheit verschwand und ihren Topf absetzte, während meine Augen sich erst noch ans Dunkel gewöhnen mussten. »Hier drüben«, rief sie. Ich ging zu einem weiteren Arbeitsbereich, wo in einer alten Glasvitrine unzählige Fläschchen und kleine Gläser standen. »Jetzt kommt der schöne Teil.« Eine der Flüssigkeiten reicherten wir mit Hafer, Milchpulver und Kokosbutter an, eine andere mit Birnenkernöl und getrockneter Ringelblume. In meinen Topf kamen Rosmarinöl und Lavendelblüten. Dann fügten wir Duftstoffe hinzu, schnupperten, und rührten noch mehr Düfte hinein.
Nachdem wir alle Flüssigkeit in Formen gegossen hatten, wandte Lizzie sich mir zu. »Es gibt noch etwas, das du wissen solltest. Joe und ich haben uns so manches böse Wort an den Kopf geworfen. Ich und mein toughes Gerede. Aber Joe war ein guter Mensch. Ich glaube, er hatte einfach nur Angst. Er war verletzt. Er wollte die Kinder und sich schützen … und dich. Aber wenn er mehr Zeit gehabt hätte –« Sie blickte weg, dann zurück zu mir. »Ich glaube, er hätte das Richtige getan. Mit der Zeit.«
»Aber du kannst doch nicht glauben, dass er die Kinder einfach an Paige abgegeben hätte?«
»Nein, natürlich nicht. Aber ich möchte gern glauben, dass er ein etwas … Ich meine, als Joe anfing, sich ein Leben mit dir aufzubauen, ließ auch seine Wut auf Paige nach und verschwand schließlich. Wenn Joe noch leben würde, hätte er sicher auch gesehen, dass es für Annie und Zach nicht gut ist, Paige total auszuschließen. Weißt du, am Anfang war das die einfachste Lösung. Und nicht nur das, er hatte gar keine andere Wahl, denn sie hatte es so gewollt. Ich kann das gut verstehen. Du tust mir leid, Ella, denn du musst dich mit den Folgen rumschlagen. Ich beneide dich wirklich nicht.«
Bevor ich ging, gab Lizzie mir eine Schachtel mit Seifen, unter anderem auch zwei ihrer Milk & Honey Bunny -Kinderseifen und eine Flasche Here Comes Bubble -Badeschaum für die Kinder. »Das«, sagte sie, »ist keine Seife, die deine Mutter benutzt.«
Ich ging zu Fuß nach Hause, winkte den Autos, die im Vorbeifahren hupten, ohne jedoch den Kopf zu heben und zu sehen, wer es war. Eines Tages würden Annie und Zach wissen wollen, warum Paige gegangen war. Und als Kinder würden sie glauben, irgendwie schuld daran gewesen zu sein. Annie verspürte wahrscheinlich schon jetzt so etwas, ohne dass sie es benennen konnte – wie ein kleiner Stachel, der in der Socke eingewebt war. Vielleicht würden die Briefe ihnen die richtige Geschichte erzählen – wenn ich sie nicht dem Gericht übergab, sondern ihnen selbst, wenn sie älter waren. Dann würden sie aber auch erfahren, dass ich Beweise zurückgehalten hatte, um zu verhindern, dass Paige das Sorgerecht bekam. Und wenn ich die Briefe dem Gericht übergab? Wenn ich das Richtige tat? Ein Richter könnte trotzdem zu meinen Gunsten entscheiden. Zu Annies und Zachs Gunsten. Er würde es sicher auch dann noch für das Beste halten, wenn sie bei mir blieben … egal was in den Briefen stand.
Trotzdem … Ich würde alles aufs Spiel setzen.
Ich hielt mir ein Stück Seife an die Nase und roch daran. Meine Seife, nicht die meiner Mutter und auch nicht die meiner Großmutter. Lizzie hatte mich heute also noch etwas ganz anderes gelehrt.
Ich weiß nicht, wie lange ich mich nach der Ohrfeige meiner Großmutter im Keller versteckt hatte, aber irgendwann siegte der Hunger über meine Scham, und ich ging hinauf in die Küche. Nachbarn stellten Platten mit Schinkensandwiches und Schüsseln mit Kartoffel- und Nudelsalat auf den Tisch. Großmutter brachte ein Tablett mit Erdnussbutterplätzchen herein. Als sie mich sah, stellte sie das Tablett ab, packte mich am Arm und brachte mich zurück in den Keller. Sie zog mich zum Spülbecken, nahm das orangefarbene Stück Seife und hielt es unters laufende Wasser. »Ich mache das wirklich nicht gern, Liebes, aber du musst lernen, dass ein junges Mädchen bestimmte Dinge nicht sagen darf. Das ist die einzige Methode, die ich kenne, damit du das niemals vergisst. Es ist ein schmerzlicher, aber nützlicher Denkzettel. Und jetzt mach den Mund auf.« Ich presste die Lippen zusammen, doch sie schob die Seife mit Gewalt bis an meine Zähne und rieb sie hin und her. Tränen stiegen mir in die Augen, ich würgte, und das wächserne Feuer brannte sich in meinen Hals und auch in meine Seele. Der scharfe Geschmack im Mund hielt sich scheinbar ewig, doch nicht annähernd so lange wie meine brennende Scham. Zum Schluss gab sie mir eine Blechtasse mit Wasser und ein rosa Handtuch aus dem Wäschetrockner. »Okay, das ist getan. Verstehst du, warum das sein musste?«
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