»Drei Tage vor seinem Tod hatte ich die Scheidung eingereicht.« Ihre Stimme versagte. »Ich habe mich immer für seinen Herzinfarkt verantwortlich gefühlt, als hätten die Scheidungspapiere ihn verursacht.«
»Nein, Mom. Es war meine Schuld, dass er gestorben ist.«
Und dann erzählte ich ihr die Geschichte, in hellen und schattigen Bildern, die fertig entwickelt nur darauf gewartet hatten, dass ich sie zwischen uns auf die Leine hängte.
Mehrere Monate vor dem Tod meines Vaters hatte Leslie Penberty mir das Haus von Miss McKenna gezeigt, und eines Sonntagnachmittags, als ich mit meinen Hund Barkley spazieren ging, hatte ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und an ihre Tür geklopft. Ich wollte nur guten Tag sagen, hoffte aber insgeheim, dass sie mich und Barkley ins Haus bitten, mir Limonade und Reisplätzchen anbieten und Fotos von ihrer Kindheit in Iowa zeigen würde, von der sie uns in der Klasse erzählt hatte.
Miss McKenna hatte im Morgenmantel die Tür geöffnet, offensichtlich überrascht, mich zu sehen, denn sie errötete. Sie sagte, dass sie sich gerade hinlegen wollte, weil bei ihr wohl eine Erkältung im Anzug sei und sie sich ausruhen müsse, es aber nett von mir sei, ihr guten Tag zu sagen. Den blauen Transporter meines Vaters, der ein Haus weiter auf der Straße parkte, nahm ich erst wahr, als Barkley an der Tür hochsprang. Auf der Ladefläche lagen noch Latten für den hübschen Zaun, den mein Vater gerade um unseren Vorgarten baute. Ich hatte ihn nie gefragt, warum sein Auto an jenem Sonntag – oder am darauffolgenden – in Miss McKennas Straße gestanden hatte. Oder warum wir beide nie mehr campen gingen, nie mehr auf der Olympic-Halbinsel wanderten und dabei die Namen von Pflanzen und Vögeln und Insekten aufschrieben, die wir sahen. Wenn er jetzt am Wochenende sagte, er müsse zum Baumarkt fahren, ging ich mit Barkley spazieren, immer mit meinem Harriet-die-kleine-Detektivin-Notizbuch in der Hand und seinem Fernglas um den Hals. Und obwohl mein Vater immer mit hastig gekauften Materialien für irgendeine Reparatur im Haus zurückkam, wusste ich, dass noch etwas ganz anderes repariert werden musste.
Und eines Samstags, als sein Wagen wieder in der Straße nahe ihres Hauses parkte, machte ich leise das kleine Seitentor von Miss McKennas Hintergarten auf und spähte in ein offenes Fenster, und in noch eins, bis ich schließlich meinen Vater im Bett sitzen sah. Er hatte die Decke bis zum Bauch hochgezogen, las Zeitung und rauchte eine Zigarette.
»Dolly?«, rief mein Vater. »Kannst du einem armen Kerl noch eine Tasse von deinem wunderbaren Kaffee bringen?« Als Barkley die Stimme seines Herrchens hörte, machte er seinem Namen alle Ehre – er bellte.
»Was zum Teufel … Barkley? Ella? Was zum Teufel …?«
Unsere Blicke trafen sich, und erst jetzt, als ich meiner Mutter die Geschichte erzählte, wurde mir bewusst, dass sich dieser eine Blick meines Vaters für immer in mein Gedächtnis eingebrannt hatte – die Panik in seinen Augen, den Schreck, die Traurigkeit und die Scham hatte ich nie vergessen.
»Jelly, warte … warte …« Aber da hatte ich schon das Gartentor erreicht, das vor meinen Tränen verschwamm, riss es auf und rannte weiter, zog Barkley hinter mir her, auch wenn es sonst immer umgekehrt war. Ich rannte und rannte, bis ich nicht mehr konnte, dann ging ich weiter, bis es dunkel wurde. Als ich schließlich nach Hause kam und die Verandastufen hinaufging, wartete meine Mutter auf der Hollywoodschaukel. Die Glut ihrer Zigarette spiegelte sich im Fenster, als wären es zwei Zigaretten, ihre und die meines Vaters und nicht nur ihre allein. Sie sprang auf und fragte, wo ich gewesen sei, sagte, dass sie sich Sorgen gemacht und die Polizei angerufen habe, und ich hatte die Schultern gezuckt und geantwortet: »Nirgends.« Sie hatte mich in die Arme genommen und an sich gedrückt, sie hatte mir die Haare hinters Ohr geklemmt und mir gesagt, dass mein Vater im Himmel sei.
»Also«, sagte ich zwischen Schluchzern meiner Mutter am anderen Ende der Leitung, »war ich es. Mein Rumschnüffeln hat zu seinem Herzinfarkt geführt – ihn buchstäblich zu Tode erschreckt.«
»Ella«, sagte meine Mom, und ich konnte beinahe hören, wie sie ihre Gedanken sortierte. »Es tut mir so leid, dass du das gedacht hast. All die vielen Jahre. Mein Schatz, du bist Wissenschaftlerin, sieh dir die Beweise an: Der Mann hatte mehr als zwei Päckchen Zigaretten am Tag geraucht, er hatte Butter und Schinkenspeck und Sahne geliebt und offensichtlich eine Zwanzigjährige ordentlich durchgevögelt. Nichts davon war deine Schuld oder meine, was das betrifft.«
Ich verstand, dass sie recht hatte, und konnte – indem ich endlich ausgesprochen hatte, was ich wusste – nun auch die Dinge sehen, die ich als Kind nicht gewusst hatte – nicht hatte wissen können.
Meine Mutter sagte: »Es tut mir ja so leid. Ich hätte wissen sollen, dass deine große Veränderung nach seinem Tod mehr war als … ich … wollte nur … So war es einfacher für mich. So warst du einfacher für mich. Und all die Gespräche über deinen Vater kamen mir vermutlich immer so vor, als würde er wieder ausgegraben. Du weißt ja, wie das ist: Lass die Toten perfekt sein. Das ist alles, was sie noch haben.«
»Und ich fange an zu verstehen … dass Perfektion eine Last ist, die keiner tragen kann, weder die Toten noch die Lebenden.«
Mein toter perfekter Vater. Mein toter perfekter Ehemann. Nicht länger perfekt in meinen Augen. Ich wusste, dass ich sie in gewisser Weise beide befreit hatte und sogar anfing, mich selbst freier zu fühlen. Doch ich hatte noch einen langen Weg vor mir.
»Ich wünschte, du hättest mir das schon damals erzählen können, Jelly. Das hast du alles für dich behalten?« Ich sagte, ich müsse jetzt Schluss machen, dass die Kinder gerade ins Zimmer gekommen seien, was nicht stimmte. Ich stand auf der hinteren Veranda und atmete tief ein und aus. Callie hatte wohl gerade ihre letzte Ausgrabung beendet, denn sie kam angesprungen, rieb ihre schmutzige Nase an meinem Bein und wedelte heftig mit ihrem Schwanz.
Ich ging und holte ein altes Handtuch, um ihr die frische Erde von Schnauze und Pfoten zu wischen.
Welcher Teufel hatte mich denn da geritten? Hatte ich nicht genug Entscheidungen im Hier und Jetzt zu treffen, musste ich auch noch schmerzliche Erinnerungen aus der Vergangenheit ausgraben? Ich sollte mich auf die Briefe konzentrieren und versuchen, den ganzen Mist aus der Welt zu schaffen, den wir Joe zu verdanken hatten, anstatt auf die schlichte Tatsache zu stieren, dass mein Vater vor fast dreißig Jahren meine Lehrerin gevögelt hatte.
Ich rief Lucy an und erzählte ihr von den Briefen. Lucy stieß einen Pfiff aus. »Was steht drin?«
Ich sagte, dass ich sie noch nicht gelesen hatte, was sie unfassbar fand. »Sie sind nicht an mich adressiert. Außerdem fällt das unter Manipulation von Beweismitteln. Wenn –«
»Wenn du sie dem Gericht übergibst, was du nicht tun wirst.«
»Aber dann unterdrücke ich Beweismittel.«
»Pass auf. Ich kann zu dir kommen. Ich kann sie öffnen, wenn es sein muss. Aber du musst wissen, was drin steht. Ich kenne den wahren Grund, warum du die Briefe nicht aufmachen willst, und das hat nichts mit dem Brechen von Gesetzen zu tun, Ella, und das weißt du auch. Es geht darum, dass sie dir das Herz brechen könnten. Und allen anderen in dieser Stadt auch.«
»Es geht um so viel«, sagte ich zu schnell, zu abwehrend. Doch Lucy kannte mich zu gut. Ich sagte, ich würde darüber nachdenken.
Später, als ich in der Küche Geschirr spülte und Marcella es abtrocknete, erzählte ich ihr von den Briefen. Sie hielt ein Glas hoch gegen das Licht, polierte es noch einmal und stellte es in den Schrank, bevor sie sich mir zuwandte und sagte: »Du glaubst doch hoffentlich nicht, dass mein Joey diese Briefe versteckt hätte. Paige war in deinem Haus. Und als ich an dem Tag nach Tante Sophia sehen musste, war sie allein mit den Kindern! Die Frau hat die Briefe da versteckt, das ist so naheliegend wie eine leergeräumte Grabkammer.«
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