»Marcella, sie sind abgestempelt.«
Sie warf die Arme in die Luft, wobei das Fett wabbelte wie ein nachklingender Gedanke. »Heutzutage können sie alles mit dem Computer machen. Das heißt gar nix. Hast du sie gelesen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ella, sie hat meine Enkelkinder allein gelassen, als sie noch Babys waren. Zach war erst zwei Monate alt. Er hatte noch die Brust gekriegt! Hast du eine Ahnung, wie viel er in diesen ersten Wochen geschrien und geweint hat, weil wir versuchten, ihn an die Flasche zu gewöhnen? Sein Schreien werde ich mein Leben lang nicht mehr vergessen. Sie hat kein Mutterrecht. Du bist ihre Mutter. Und jetzt verhalt dich auch so. Und red nicht über deinen Mann, als wäre er ein Lügner und Verbrecher gewesen!«
Sie drehte sich um und ging hinaus. Joe senior, der mit den Kindern die Hühner gefüttert hatte, gerade zur Küchentür hereingekommen war und noch den Rest gehört hatte, sagte: »Ella, ich liebe dich wie mein eigenes Kind. Aber ich weiß nicht, wie Marcella es schaffen soll, morgens aufzustehen, wenn sie nach Joe auch noch unsere zwei bambini verliert. Es gibt Grenzen, was ein Mensch verkraften kann. Für eine Familie trifft das genauso zu.« Er fuhr seufzend mit der Hand über seinen kahlen Kopf. »Meinen großen Bruder haben wir im Krieg verloren.« Er hielt inne. »Selbst meinen Papa – für eine Weile.«
»Aber er ist zurückgekommen.«
»Stimmt. Aber nicht so, wie er gegangen war. Er kam als ein anderer zurück.« Er legte die Hand auf meine Schulter. »Und es ist nicht nur Sergio passiert, musst du wissen. Auch Dante, Marcellas Papa. Ihn haben sie auch mitgenommen. Sie wurden wie Verbrecher behandelt, obwohl sie nichts verbrochen hatten. Ich liebe dieses Land. Aber wenn es um die Familie geht, habe ich kein Vertrauen in die Regierung. Sie können unser ganzes Geld nehmen und es Steuern nennen. Aber in Gottes Namen, nicht unsere Väter. Und nicht unsere Enkelkinder.« Er drückte meine Schulter noch fester. »Bitte, meine Liebe, lass nicht zu, dass sie uns die Enkelkinder wegnehmen.«
Später am Abend, nachdem ich Annie und Zach Geschichten vorgelesen hatte und sie eingeschlafen waren, bellte Callie. Ich ging in den Flur und sah Marcella durch das Glas in der Tür. Ich machte ihr auf. Wir standen uns wortlos gegenüber. In ihrem Gesicht waren die Spuren der vergangenen Monate zu sehen, und ich wollte etwas sagen, irgendetwas, das ihren und meinen Kummer linderte.
Doch sie kam mir zuvor. »Ich habe dich geliebt wie eine Tochter«, sagte sie mit Tränen in den Augen, »aber du willst nicht auf mich hören. Der Laden, den du DAS LEBEN IST EIN PICKNICK nennst, der ist für Annie und Zach. Vergiss das nicht. Wir haben dir wegen unserer Enkelkinder geholfen. Weil wir dir ihre Zukunft anvertraut haben! Ella, diese Briefe, die musst du verbrennen. Du darfst sie nicht lesen.«
»Ich muss sie lesen. Ich muss die Wahrheit wissen.«
»Nein.« Sie sah mich aus dunklen, traurigen Augen an, hob die Hand und gab mir eine schallende Ohrfeige. Erschrocken riss sie die Augen auf und presste ihre Hand auf den Mund.
Ein brennender Schmerz überzog meine Wange. Tränen stiegen mir in die Augen, eine eher körperliche als emotionale Reaktion, denn ich war zu geschockt, um zu weinen. Marcella drehte sich um, ging händeringend die Veranda hinunter, stieg in ihr Auto und fuhr davon.
Einen brennenden Schmerz wie diesen hatte ich nur einmal zuvor auf meiner Wange verspürt, am Tag der Beerdigung meines Vaters. Großmutter Beene und ich waren im dunklen, kühlen Keller, um ein paar Gläser selbstgemachte Pickles für die Trauergäste zu holen. Ich hatte seit Tagen eine Frage mit mir herumgetragen, die ich meiner Mutter lieber nicht stellen wollte. Aber mit meiner Großmutter hatte ich immer über alles reden können, sie lachte, wenn ich mir kindliche Schnitzer erlaubte, die andere Erwachsene eher irritierend fanden. Meine Frage war Teil eines Puzzles, das ich in meinem Kopf zusammenzusetzen versuchte, und basierte auf Gesprächsfetzen, die ich aufgeschnappt hatte, und Folgen der Fernsehserie Jung und Leidenschaftlich – Wie das Leben so spielt , die ich immer zusammen mit meiner Großmutter sah, wovon meine Mutter aber nichts erfahren durfte. Ich glaubte, kurz davor zu sein, etwas ganz Wesentliches zu verstehen, und hielt die Ruhe in der Vorratskammer des Kellers für geeignet, sie zu fragen: »Großmutter? Hat Gott Daddy sterben lassen, weil er Miss McKenna liebte und Nickerchen mit ihr gemacht hat?«
Auch damals folgte die Ohrfeige blitzschnell, und meine Großmutter sprach in einem Ton zu mir, den ich von ihr nicht kannte. »Sag das nie, nie wieder! Und auch sonst nichts dergleichen! Dein Vater war ein wunderbarer Mann. Und vergiss das niemals, junge Dame. Schäm dich!«
Sie drehte sich um und stapfte die Kellertreppe hoch, wobei die breiten Absätze ihrer Schuhe auf jede einzelne Holzstufe knallten.
Ich stand da und starrte auf die Gläser mit Himbeermarmelade, eingemachten Aprikosen, grünen Bohnen mit dem Etikett BEENE’S BOHNEN, die vielen Reihen Mixed Pickles, für die sie im Ort berühmt war: In Scheiben geschnittene süßsaure Pickles-Gurken, süße Pickles, scharfe Dill-Gurken, extrascharfe Dill-Gurken und milde Dill-Gurken. Großmutter Beene war ein Muster an Effizienz und Produktivität, und doch begegnete sie anderen mit einer sanften Ruhe und Geduld, die extrem pragmatische Menschen sonst nicht besaßen.
Durch ihre so untypische Reaktion wurde mir klar, dass ich eine furchtbare Frage gestellt hatte. Doch vielleicht hatte sich ihr »Schäm dich« auch nur auf mein Rumspionieren bezogen, und sie wusste von irgendwoher, dass ich meinen Vater so sehr erschreckt hatte, dass sein Herz stehengeblieben war. Meine Hände waren ganz verschwitzt gewesen, und ich hatte sie am Schottenrock abgewischt, da, wo die große goldene Sicherheitsnadel den überlappenden Stoff zusammenhielt und sich manchmal im Futter meines Wintermantels verhakte. Das Puzzleteil mit dem stehengebliebenen Herz meines Vaters schien zu dem anderen zu passen, von dem niemand sonst wusste – dass ich ihn so erschreckt hatte, dass er anfing zu schreien. Ich wusste, dass mein eigenes Herz wegen der Ohrfeige von meiner Großmutter raste. Vielleicht würde es ja auch bald stehenbleiben. Ich betete, dass das nicht passierte und mein Daddy mich nicht aus seinem mit Satin ausgelegten Sarg in der Erde böse ansah.
Aber das war noch nicht alles. Großmutter Beene war noch nicht fertig gewesen mit ihrer Lektion, doch hier und jetzt musste ich über andere Dinge nachdenken als die alten traurigen Geschichten, zum Beispiel was ich mit den Briefen tun sollte.
Als ich früh am nächsten Morgen gerade die Krümel unterm Ladentisch wegkehrte, kam Frank herein und schenkte sich einen Kaffee ein. »Diese alte Crystal-Meth-Tante auf der anderen Seite der Brücke ist komplett gaga von all den Drogen, was ja weiter nichts Neues ist. Nur dass sie jetzt plötzlich die hübsche Idee hatte, mit dem Kajak auf dem Fluss rumzupaddeln, was auch weiter kein Problem wäre, wenn sie wieder nach Hause gefunden hätte. Doch da dem nicht so war, ruft also ihr Junkie-Freund bei uns an, und wir müssen sie suchen, mit allem Drum und Dran, Rettungswagen, Suchtrupps, Helikopter und so weiter, die ganze Palette, weil die alte Dame nämlich so stoned war, dass sie nicht gemerkt hat, dass sie im Kreis paddelt.« Er hob den Kaffeebecher, als wolle er mir zuprosten. »Und das, meine Damen und Herren, wird alles von Ihren Steuerdollars bezahlt.«
»Ich frage mich, was ihr passiert ist.«
»Absolut nichts. Genau darum geht es ja, El. Wir haben sie kurz nach Mitternacht ein Stück hinter Edwards Mühle gefunden, wo sie komplett zugedröhnt im Mondlicht badete.« Kopfschüttelnd trank er einen Schluck.
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