Paige atmete erneut tief ein. »Joes Tod hat Ella schwer getroffen, und ich glaube nicht, dass sie in der Lage ist, sich um die Kinder zu kümmern. Nach der Beerdigung habe ich sie rauchend und trinkend im Garten gesehen. Seitdem ruft Annie mich regelmäßig an. Sie hat mir erzählt, dass Ella beinahe einen Unfall mit dem Auto gebaut hätte und sie angeschrien und geflucht hätte.«
Das wieder? Ist das dein Ernst? Ich schüttelte den Kopf.
»Nachdem ich ein Wochenende lang mit den Kindern zusammen war, brachte ich sie zurück in ihr Haus. Als wir dort eintrafen, hatte ich den Eindruck, dass Ella Tabletten oder etwas mit einer ähnlichen Wirkung genommen hatte. Sie sagte, sie hätte Grippe, aber ich frage mich, ob sie ein Problem mit Medikamentenmissbrauch hat.«
Ich starrte Paige unverwandt an, doch sie heftete den Blick weiter auf Janice Conner.
»Inzwischen haben die Kinder und ich wieder zueinander gefunden, und ich bin so erleichtert, dass das Band zwischen uns nie durchschnitten war. Sie wissen ja selbst, wie stark die Bindung zwischen einer Mutter und ihrem Kind ist.« Paige strich ihren Rock glatt. »Jedesmal, wenn ich mit Annie spreche, fragt sie, wann sie mich besuchen kann. Dazu kommt, dass der Laden schon vor drei Jahren rote Zahlen geschrieben hat, und ich frage mich, wie stabil Ellas finanzielle Situation ist.«
Janice Conner machte sich auch noch Notizen, als Paige schließlich aufgehört hatte zu reden, und blickte mich dann über den Rand ihre Brille hinweg an. »Ella, jetzt würde ich gern von Ihnen hören, was ich Ihrer Meinung nach wissen sollte.«
Das Herz schlug mir bis zum Hals. Sie hatte schon vor drei Jahren gewusst, dass der Laden schlecht lief? »Im Wesentlichen«, begann ich, »dass sie nicht die Wahrheit sagt.«
Janice Conner lächelte geduldig. »Ich weiß, dass Sie es anders sehen, und Sie haben jetzt die Gelegenheit, uns Ihre Seite der Geschichte darzulegen.«
»Gleichwohl …«, erinnerte ich mich zu sagen. »Es existieren keine Briefe. Sie hat nie einen Brief geschickt. Es gibt nur einen einzigen, und das ist der, den sie im Haus hinterlassen hatte und in dem sie Joe mitteilt, dass sie raus muss, dass er ein wunderbarer Vater ist, aber sie keine Mutter sein kann.« Mehr nicht. Ich verschwieg, dass ich sicherheitshalber noch einmal Joes Kartons durchgesehen – und nichts gefunden – hatte.
Paige schüttelte den Kopf. »Ich habe Karten und Briefe geschickt. Jede Menge«, sagte sie weinerlich und sah mich an: »Wo zum Teufel waren Sie, dass Sie das nicht mitgekriegt haben?«
Janice Conner räusperte sich. »Ich muss Sie beide daran erinnern, Ihre Stellungnahmen und Fragen ausschließlich an mich zu richten. Aber ich habe eine Frage an Sie, Paige: Haben Sie jemals eine Karte oder einen Brief als Einschreiben geschickt?« Zum ersten Mal trat Stille ein. Ich sah hinüber zu Paige, die langsam den Kopf schüttelte, kaum merklich, den Blick auf ihre Hände im Schoß gerichtet. »Das ist bedauerlich, denn dann hätten wir jetzt keine Situation, wo Aussage gegen Aussage steht. Paige, halten Sie es für möglich, dass die Briefe nie abgeschickt wurden?«
Paige sagte nein, doch ihr Gesicht lief rot an.
Janice fuhr fort: »Mir ist das auch schon passiert, ich dachte, ich hätte etwas weggeschickt, und fand es dann später in der Schublade bei den Rechnungen. Sie wurden medikamentös behandelt und durchlebten eine schwere Zeit. Könnte es sein, dass Sie sie einer Krankenschwester oder einem Krankenpfleger gegeben haben? Ihrem Psychiater? Oder vielleicht haben Sie sie in ihre Tasche gesteckt, um sie später einzuwerfen? Ich will damit nicht andeuten, Sie hätten sie nie geschrieben, nur dass –«
»Nein!«, brach es aus Paige heraus, deren Gesicht nun dunkelrosa und zornig war. Dann, ruhiger, den Blick an die Decke gerichtet: »Sie glauben, alle haben mich reingelegt?«
»Zumindest lässt sich heute nicht klären, ob die Briefe geschickt wurden. Deshalb möchte ich jetzt gern wieder Ella das Wort übergeben. Ella, können Sie mir sagen, warum Annie und Zach in Ihrer Obhut bleiben sollten?«
Ich schluckte, Annie und Zach vor Augen, wie sie heute Morgen auf Stühlen stehend mit Marcella Fleischklößchen geformt hatten, die Schürzenbänder doppelt um ihre kleinen Bäuche gewickelt. »Weil ich die einzige Mutter bin, die sie kennen. Weil wir ein Zuhause haben und von einer großen, fürsorglichen Familie umgeben sind. Und von einer wohlwollenden Gemeinde und vielen Freunden. Es ist sicher großartig, ein Wochenende lang bei Paige zu sein und einen Mordsspaß zu haben, aber im Grunde trauern sie, und das ist die Wahrheit. In meinem Zuhause dürfen sie traurig sein, weil ich auch traurig bin. Ich sehe den Tod ihres Vaters nicht als ›Chance‹ an. Das ist krank.
Und ja, es stimmt, ich hatte ein paar schlechte Tage. Aber ich trauere. Ich werde nicht verrückt. Paige und ich sind grundverschieden. Absolut.«
Ich blickte auf und sah Janice an, die sich Notizen machte, wie schon bei Paige. Sie blätterte eine Seite zurück. »Können Sie etwas über Ihr Verhalten sagen, das Paige beschrieben hat, ihre Sorge hinsichtlich Ihres Umgangs mit Medikamenten?«
Ich erzählte ihr, dass der Arzt mir einen Angstlöser verschrieben hatte, dass ich solche Sachen nie zuvor geschluckt und an jenem Tag wohl ein paar zu viel genommen hatte. »Aber ich habe den Rest weggeworfen und seither keine Tabletten mehr angerührt.« Gott allein wusste, dass ich in diesem Moment wirklich eine gebraucht hätte.
»Ganz sicher? Kann Ihr Arzt das in einem Brief bestätigen? Ihre Kollegen?«
»Ja, kein Problem. Ich war noch nie in irgendeiner Form süchtig.« Ich erklärte auch die Umstände des Beinahe-Unfalls und warum ich geschrien hatte. »Das sind Situationen, die Paige nie erlebt hat, weil sie gegangen ist.«
Paige stellte die Beine nebeneinander, straffte die Schultern. »Glücklicherweise«, sagte sie, »ist meine Geschichte damit nicht zu Ende. Es war harte Arbeit, aus dieser Situation wieder auf die Füße zu kommen, und die Kraft dazu habe ich nur aus einer Quelle geschöpft, nämlich der Liebe zu meinen Kindern. Ich bin ihre Mutter. Eine Mutter, die Fehler gemacht hat, aber trotzdem noch immer glaubt, dass zu gehen die richtige Entscheidung war … Weil ich sie geliebt habe und noch immer liebe. Ich bin jetzt in der Lage, ihnen ein finanziell besseres und emotional stabileres Umfeld zu bieten, als sie das kann, und ich bin ihre Mutter. Sie sollten bei mir sein.«
Janice schrieb jedes Wort auf, das Paige sagte.
»Sie schreiben alles auf, was sie sagt, aber es ist nicht die Wahrheit.« Meine Stimme hatte einen schrillen Unterton, und ich atmete tief durch, zwang mich zur Ruhe. »Für die Kinder ist Paige jemand Neues. Sie kauft ihnen Dinge. Die Kinder haben keine starke emotionale Bindung an sie. Zach kennt sie nicht einmal! Sie stürzt sich auf Annie, weil Annie extrem verletzlich ist. Ich habe Angst um die beiden, wenn sie jetzt auch noch aus ihrem Zuhause gerissen würden. Ihre Mutter ist gegangen, als sie noch ganz klein waren. Sie haben ihren Vater verloren. Für immer. Und wenn sie jetzt auch noch mich verlieren … und ihre Großeltern, den Onkel, alle. Annie und Zach wären am Boden zerstört.«
Sie wandte sich Paige zu. »Was genau macht ein Home Stager?«
»Also ich spreche mit –«
»Sie entfernt alle persönlichen Gegenstände und Erinnerungsstücke, die ein Haus zu einem Zuhause machen. Sie stellt ein paar sorgfältig platzierte moderne Möbelstücke rein, damit es aussieht, als würde jemand anderes darin wohnen, am besten sogar der potentielle Käufer. Das Ganze ist ein Fake. Sie täuscht ein Zuhause vor. Und sie ist gut darin.«
»Zumindest verlange ich nicht von den Kindern, in einer winzigen, vollgestopften Hütte zu leben.«
»Ha, Hütte. Genau. Aus ihrem Mund klingt das, als wären die Wände aus Teerpappe.« Ich sah Janice an, atmete tief durch. »In Wirklichkeit ist es ein hübsches, 1930 umgebautes Cottage, das die Großeltern der Kinder errichtet haben.« Ich erzählte weiter von Elbow, den Verwandten, ihren Freunden, ihren Haustieren – alles sprudelte einfach aus mir heraus.
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