Während ich mich für die Mediation umzog, beschäftigte Marcella die Kinder mit dem Formen von Fleischklößchen. Ich hätte mir etwas Neues kaufen sollen, dachte ich beim Anprobieren einer Hose, die mir noch vor einem Monat gepasst hatte und jetzt schlabberte. Ich holte mein Kosmetiktäschchen hervor und trug Rouge auf, ein wenig Lippenstift und tuschte sogar meine Wimpern. Ich hatte auch früher nur selten Mascara benutzt, doch nach Joes Tod überhaupt nicht mehr, da ich nie wusste, wann meine Tränen flossen und schwarze Spuren auf meine Wangen malten. Aber heute war die Wimperntusche eine Kampfansage an die Tränen. Ich würde nicht weinen. Ich würde ruhig und doch warmherzig erscheinen, eloquent und doch liebevoll, mit langen und voluminösen Wimpern, wie auf dem Etikett versprochen.
Im Spiegel betrachtete ich meinen Versuch, mich aufzupeppen, die schlackernden Hosen, das aufgesetzte Lächeln. Eine wahrhaft traurige Erscheinung. Es wäre sicher hilfreich gewesen, etwas Neues zu kaufen, doch angesichts der angespannten finanziellen Situation des Ladens hatte ich es nicht fertiggebracht, Geld für mich selbst auszugeben. Ich zog das Gummi aus dem Pferdeschwanz und wuschelte mir durch die Haare, um sie locker und fluffig zu machen und so mein größtes Plus zur Geltung zu bringen. Doch sie sahen bloß ungekämmt aus, und ich zwängte sie zurück in das Gummiband. Ich küsste die Kinder und umarmte beide so lange es ging, ohne dass sie misstrauisch wurden. Nach reiflicher Überlegung hatte ich beschlossen, ihnen erst dann etwas zu sagen, wenn klar war, wo die Reise hinging.
»Was ist das denn für eine Verabredung?«, fragte Annie, die sich nicht so leicht beirren ließ.
»Oh, nur ein Meeting«, sagte ich. »In ein paar Stunden bin ich wieder da. Ihr bleibt hier und helft Nonna.«
»Mama hat auch gesagt, sie hat ein Meeting …«
Ich tippte ihr mit der Fingerspitze auf die Nase. »Ach ja? Ich fürchte, lange und langweilige Meetings gehören nun mal zum Leben von Erwachsenen.«
Jeder in der Familie hatte irgendwann angeboten, mich zu begleiten und im Aufenthaltsraum auf mich zu warten. Selbst meine Mutter sagte, sie würde sich in den Flieger setzen, um mich zu unterstützen. Aber das hier musste ich allein durschstehen. Die Familie half, den Laden zu retten. Ich musste Annie und Zach retten – und mich selbst.
Doch als ich im Familiengericht den mit Linoleum ausgelegten Flur zur Mediations-Abteilung entlangging, hatte ich furchtbare Bauchschmerzen. Ich setzte mich in eine der vorderen Reihen nahe der hinteren Wand und sah mich im Raum um. Paige war noch nicht da. Vielleicht würde sie nicht erscheinen. Vielleicht steckte sie wegen eines Unfalls im Stau, oder ihr Flugzeug hatte Verspätung. Die Justizangestellte hinter dem Schalterfenster erklärte einem Mann in einem billigen Anzug, an dessen Ärmel noch die zwei Plastikfäden vom Preisschild hingen, dass die einstweilige Verfügung noch in Kraft sei und er einen gesonderten Mediationstermin ausmachen müsse. Der Mann drehte sich um und ging mit gesenktem Kopf hinaus.
Ich warf einen Blick auf meine Notizen. Emotional stabil. Ausgeglichen. Liebevoll. Zuverlässig, ja sogar verständnisvoll.
Vielleicht würde sie nicht auftauchen.
»Capozzi gegen Beene?«, rief die Justizangestellte, und ich ging zum Schalterfenster. »Sie müssen sich anmelden«, sagte sie und reichte mir ein Formular.
Ich füllte es aus. Unter »Beziehung zum Kind« machte ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Kreuz bei »Stiefmutter«, denn bislang hatte ich meinen Namen immer bei »Mutter« eingetragen – bei der Anmeldung zum Schwimmunterricht, zum Kindergarten, bei Annies Fußballverein. Aber hier stand es nun schwarz auf weiß für den Mediator, und Paige würde ein Kreuz bei »Mutter« machen und somit von Anfang an im Vorteil sein.
Aber dafür müsste sie erst einmal kommen. Ich wartete, hoffte, doch dann ging die Tür auf, und ich sah, wie sie zum Schalter ging und ihr Kreuz bei »Mutter« machte. Alle Blicke waren auf sie gerichtet, jeder hier fragte sich wahrscheinlich, wessen Exfrau sie wohl sein mochte, wo doch kein passender Partner im Raum zu sehen war. Die Männer richteten sich in ihren Stühlen auf und die Frauen auch. Selbst ich setzte mich aufrecht hin.
Paige sah sich nach einem Stuhl um und verschwand aus meinem Blickfeld. Je länger wir warteten, desto nervöser wurde ich. Als ich meine Notizen noch einmal las, wurde mir irgendwo zwischen Über enge Beziehung zu den Kindern sprechen und Wie unsere Tage aussehen schlagartig klar, dass hier und jetzt viel zu viel auf dem Spiel stand. Die Zukunft konnte doch unmöglich von einem flüchtigen Meeting mit einem Fremden abhängen.
Jetzt kam die eine Mediatorin, die mir positiv aufgefallen war, weil sie das ihr zugeteilte Paar freundlich angelächelt hatte, heraus und rief unsere Namen. Ihr graues Haar war kurz geschnitten, die Haut sonnengebräunt, und sie trug einen wallenden, luftig-leichten Rock und Sandalen. Sie sah von ihrem Klemmbrett auf, nahm die Lesebrille von der Nase, die ihr nun an einer Kette aus Silber und Türkis um den Hals hing, und stellte sich vor.
Nachdem wir uns in Janice Conners Büro niedergelassen hatten, sagte sie: »Ich habe Ihre Akte gelesen und muss sagen, dass dies ein ungewöhnlicher Fall ist. Sie sollen wissen, dass ich sowohl eine Mutter als auch eine Stiefmutter bin und Ihrer beider Situation verstehen kann. Ich möchte, dass Sie beide mir sagen, was Ihrer Meinung nach passieren soll, und den Grund dafür. Paige, Sie sind die Antragstellerin und machen deshalb den Anfang.« Sie lächelte Paige an. »Warum sind wir hier?«
Paige erwiderte das Lächeln. »Zuerst einmal möchte ich mich bei Ella entschuldigen.« Sie wandte sich mir zu. »Sie waren meinen Kindern eine gute Stiefmutter, und das werde ich immer anerkennen. Aber zahlreiche falsche Entscheidungen und Missverständnisse zwischen Joe und mir –«
»Joe ist der verstorbene Vater der Kinder?«, fragte Janice Conner.
»Ja. Und ich habe nie die Absicht gehabt, meine Kinder für immer zu verlassen.«
»Das«, sagte ich, »ist schlichtweg nicht wahr. Sie haben zu ihm gesagt, sie kommen nie wieder zurück.«
Paige ignorierte meinen Einwand und richtete ihre Worte an Janice Conner. »Ich litt unter schweren postpartalen Depressionen. Ich fühlte mich nicht – also ich dachte, es wäre besser für Annie und Zach, mich nicht um sich zu haben. Joe hat das nicht verstanden, und dann bin ich gegangen. Aber ich habe Briefe geschrieben. Eine Weile hatte ich zwar damit aufgehört, doch als ich dann wieder Kontakt aufnehmen wollte, weigerte er sich, meine Anrufe im Laden entgegenzunehmen. Als er das alleinige Sorgerecht beantragt hatte, war ich gerade an meinem Tiefpunkt angelangt. Ich war, ähm …« Sie holte tief Luft und stieß schließlich einen langen Seufzer aus. »Ich war in einer psychiatrischen Klinik, und dort habe ich schließlich einen Arzt gefunden, der mir geholfen hat.
Die ganze Zeit habe ich weiter an Joe und die Kinder geschrieben. Selbst als ich ihm das Sorgerecht abgetreten hatte, wusste ich, dass es nur vorübergehend sein würde. Ich wollte wieder gesund werden, eine Arbeit finden und dass Joe zu mir zurückkommt. Aber er ist nicht zurückgekommen. Stattdessen hatte er sie kennengelernt.« Sie nickte in meine Richtung. »Ella.«
»Stimmt. Vier Monate, nachdem sie gegangen war, haben Joe und ich uns kennengelernt. Nachdem sie ihm gesagt hatte, dass sie nie mehr zurückkommt und er nach vorne schauen soll.«
»Okay«, sagte Janice Conner. »Hier möchte ich unterbrechen. Es ist bedauerlich, Paige, dass Sie und der Vater der Kinder nicht mehr zusammenfinden konnten. Aber jetzt sind wir hier, und drei Jahre sind vergangen. Die Kinder haben offensichtlich eine liebevolle Stiefmutter, an der sie hängen. Sie haben gerade ihren Vater verloren. Warum jetzt? Warum sollen wir ihre Welt noch mehr auf den Kopf stellen und erlauben, sie aus ihrer vertrauten Umgebung zu reißen?«
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