»Ich habe mein Flugzeug verpasst«, sagte sie, schloss das Buch und hielt es mit der Vorderseite nach unten. »Marcella müsste jeden Moment zurückkommen, sie ist kurz weggefahren, um nach Tante Sophia zu sehen.«
Ich nickte, hörte nicht auf zu nicken. Mein Körper zitterte so sehr, dass eines meiner Knie nachgab. Eine Krähe schrie ihr Kra Kra Kra in der noch feuchten Luft, mit dem sie ihr Anrecht auf ihren Lieblingsast oder den bevorzugten Zaunpfahl anmeldete.
Annie grinste mich an, doch Zach war schon von Paiges Schoß geklettert und umklammerte mein Bein. Ich nahm ihn auf den Arm, sog seinen frischen, erdigen Duft ein, jetzt vermischt mit Paiges Parfum – unverkennbar Jasmin. Und eine Zitrusfrucht, aber nicht aus dem Garten oder einem Orangenhain, sondern aus der Kosmetikabteilung von Macy’s.
Meine Mutter, die hinter mir eingetreten war, legte mir die Hand fest auf den Rücken. »Hallo«, sagte sie zu Paige. »Benötigen Sie ein Taxi zum Flughafen?«
Paige schüttelte den Kopf. »Ich habe einen Mietwagen.« Sie blickte auf die Uhr. »Und ich sollte jetzt besser gehen.«
Das , dachte ich, ist eine echte Untertreibung .
»Wenn Sie in einen Stau kommen«, sagte ich, »dauert es Stunden … Wohin fliegen Sie?« Sibirien? Antarktis? Zum Mond?
»Las Vegas. Meine Visitenkarte liegt auf dem Couchtisch …«
Was zum Teufel soll ich mit deiner Karte?
»… damit die Kinder mich jederzeit anrufen können.«
Warum sollten sie dich anrufen wollen? Sie kennen dich nicht einmal. Sie kennen den Klempner besser als dich, und den rufen sie auch nicht an.
Sie drückte Annie unsäglich lange. Meine Mutter hob wieder die Augenbraue. Die Krähen schrien wieder. Die Corvus brachyrhynchos . Krähen haben einen schlechten Ruf, aber sie sind hochintelligente, sehr anpassungsfähige Vögel, und ich verteidige sie jedes Mal, wenn Leute sich über sie beklagen. Ihre Schreie haben alle eine unterschiedliche Bedeutung, und ich war ziemlich sicher, dass diese gerade irgendeine Warnung ausstieß. Paige ließ Annie schließlich los, stand auf und streckte die Arme nach Zach aus, den ich ein bisschen zu fest hielt. Sein Lächeln war schüchtern, doch er beugte sich zu ihr hin. »Mach’s gut, Zach.« Wieder brach ihre Stimme. Tränen ließen ihre blauen Augen noch größer erscheinen, Augen, die Annies so ähnlich waren. Paige hielt die Tränen zurück, wollte anscheinend bewusst keine Szene machen. Zumindest das konnte ich anerkennen.
»Auf Wiedersehen, Lady«, sagte Zach.
Sie gab ihn mir zurück. Endlich, endlich trat Paige aus der Tür, schlüpfte in ihre Stöckelschuhe und ging klackernd die Verandatreppe hinunter.
Ihr Parfum hing weiter in der Luft. Ich folgte Annie ins Wohnzimmer, das Joe einmal liebevoll unsere Nicht-so-Gute-Stube getauft hatte. Sie saß am Fenster mit der welligen Scheibe und sah Paige hinterher.
»Banannie? Ist alles okay?« Ich ging hin und kniete neben ihr.
»Ich … will … meinen … Daddy«, flüsterte sie kaum hörbar.
»Ich weiß, mein Schatz, ich weiß.« Ich hielt sie in den Armen, doch sie drehte den Kopf, so dass ihr Blick weiter auf der leeren, an ein Flussbett voller Kiesel erinnernde Einfahrt und der Staubwolke von Paiges Auto haftete. Ich wusste nicht, was ich über Paige sagen sollte. Dass sie zurückkommen würde? Ich wusste nicht, was sie für Annie und Zach tun … oder sein wollte.
Zach stürmte ins Zimmer. »He, Mister!«, sagte er und zeigte auf meine Stiefel. »Schuhe gehören raus. Komm, ich zeig dir’s.«
Und wieder zog meine Mutter die Augenbrauen hoch. Sie könnte sich niemals Botox spritzen lassen, sie kommunizierte hauptsächlich mit der Stirn. »He, Mister?«, sagte ich. »Ich bin kein Mister, Mister!« Zach lachte. »Und diese Stiefel sind zum Laufen da, und nicht, um auf irgendeiner alten Veranda rumzustehen.«
Er neigte den Kopf zur Seite, schaute nach oben und dachte über meine Worte nach. »Himmelherrgott«, sagte mein kleiner Junge, ein Ausruf, den er von seinem Großvater gelernt hatte. Dann ging er nach draußen, zog seine akkubetriebenen Batman-Sportschuhe an und stampfte mit rot blinkenden Füßen zurück ins Haus.
Nachdem die Kinder aufgewärmten Thunfischauflauf – laut Klebeband auf der Unterseite der Glasform von der Familie Nardini – gegessen hatten, war es Zeit für ihren Mittagsschlaf. Da das Buch Bist du meine Mutter? noch auf dem Schaukelstuhl lag, steckte ich es zurück in die Kiste, stellte die Kiste zurück in den Schrank und las ihnen aus Kleiner Bär vor. Keiner sagte etwas über das andere Buch, und noch bevor ich zu Seite sechs von Kleiner Bär kam, waren beide eingeschlafen, von all den Ereignissen genauso erschöpft wie ich. Auf Zehenspitzen ging ich zum Schrank, fischte das andere Buch aus der Kiste, ging hinaus und warf es in den Müll.
Zurück im Haus, betrachtete ich mir Paiges Visitenkarte.
PAIGE CAPOZZI
Home Stager
FÜR MIET- UND VERKAUFSOBJEKTE
DER GEHOBENEN KLASSE
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»Sie arbeitet als ›Home Stager‹. Das sind Leute, die Haus- und Wohnungsbesitzer bei der Präsentation ihrer Immobilien beraten, die sie vermieten oder verkaufen wollen – eine ziemlich neue Branche«, erzählte ich meiner Mutter, die gerade abwusch.
»Ja, ich weiß. So eine Art Innendekorateurin, die ins Haus kommt und einem erzählt, man solle sein ganzes Gerümpel wegwerfen.«
»Wie Großmutter Beene.«
»Genau. Shirley hatte so jemanden engagiert, als sie ihr Haus verkaufen wollte. Auf Anraten der Frau hatte sie ein paar Möbel gemietet und ihren alten pfirsichfarbenen Fernsehsessel rausgeschmissen, was gut war. Sie hatte überall frische Blumen hingestellt und einen Apfelkuchen in den Backofen geschoben. Und sie musste alle Fotos abhängen.«
»Warum denn? Das scheint mir ziemlich unpersönlich.«
»Sie meinte, so könnten sich die potentiellen Käufer das Haus besser vorstellen und würden nicht von all den persönlichen Dingen abgelenkt. Vermutlich sollen sich die Leute gleich beim Eintreten wie zu Hause fühlen, ohne die gegenwärtigen Bewohner groß ausblenden zu müssen. Außerdem hat sie Fengshui-Regeln beachtet, um positive Energien zu erzeugen.«
»Hat es funktioniert?«
»Ihr Haus sah nie besser aus. Nach zwei Tagen war es verkauft, sogar für mehr Geld, als sie ursprünglich wollte. Du kennst doch den derzeitigen Immobilienmarkt, die Preise schießen immer weiter nach oben. Shirley musste sich beherrschen, um es nicht gleich wieder zurückzukaufen.«
»Ich habe mir Paige immer als durchgeknallte Frau vorgestellt, die in einer Wohnwagensiedlung haust und den ganzen Tag vor dem Fernseher hockt und Soaps guckt.« Ich sah mir das Zimmer mit Paiges Augen an – wie sie die Bücherregale leerräumte und Müllsäcke und Kisten für eine Hilfsorganisation fertig machte. Die wenigen Paar Schuhe, die sie uns ließ, würde sie ordentlich aufgereiht draußen auf die Veranda stellen. »Was zum Teufel will sie, Mom?«
Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich gar nichts. Außer vielleicht einen Weg zu finden, sich selbst zu vergeben.«
Meine Mutter wollte sich ausruhen, und ich bot ihr mein Bett an. Ich selbst hatte zwar auch kaum geschlafen, war aber viel zu überdreht, um mich hinzulegen, und wollte zumindest einen Blick auf die Unterlagen aus dem Büro werfen.
Die Aktenmappe mit der Aufschrift »Verbindlichkeiten« war voller Rechnungen mit einem Überfällig -Stempel drauf. Wie war das möglich? Joe gehörte nicht zu den Leuten, die ihre Rechnungen ewig liegenließen. Wenn es ums Bezahlen ging, war er geradezu fanatisch pünktlich. Gäbe es einen religiösen Kult namens Zahlen Sie Pünktlich Für Ihre Sünden, wäre er ihr Papst oder zumindest ein sehr ehrenwerter Guru.
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