Joe hatte gelacht. »Autsch. Die Antwort lautet nein.«
»Ich hab noch nie gehört, dass Italiener in Lager gesteckt wurden. Wie ist das möglich?«
Joe erklärte, dass sowohl Italiener als auch Deutsche in Internierungslager gebracht wurden, wenn auch lange nicht so viele wie japanischstämmige Amerikaner. Und Italiener in Küstenstädten mussten umsiedeln. Damals waren viele Einwohner von Bodega nach Elbow gekommen. Doch es gab einen Grund, warum ich nie etwas davon gehört hatte: Niemand redete darüber, weder die Italo-Amerikaner noch die amerikanische Regierung.
»Aber es ist wirklich wahr«, sagte Joe. »Großvater hat nicht gern darüber gesprochen, und mein Vater auch nicht. Aber das war der Grund, warum Sergio und Rosemary darauf bestanden, Oma und Opa genannt zu werden und nicht Nonno und Nonna. Während des Kriegs bemühten sich zudem alle, nur noch englisch zu sprechen. Damals gab Capozzi’s Market auch sein Motto ›Alles aus Italien‹ auf und wurde ein amerikanisierter Mischling – Mozzarella rückte sozusagen für Velveta zur Seite. Ich glaube, damals hat Opa Sergio seine Leidenschaft für den Laden verloren.« Joe hatte mit den Schultern gezuckt und nach einer Weile schließlich hinzugefügt: »Weil er das sein wollte, was er seiner Meinung nach sein sollte, und auf Nummer Sicher ging.« Seine Stimme verlor sich, und mir kam der Gedanke, dass er nicht nur Sergio, sondern auch sich selbst damit gemeint hatte. Doch ich fragte nicht nach, wollte die Antwort nicht wissen.
Meine Mutter fuhr auf den Parkplatz vor dem Laden, auf dem Joe und ich uns zum ersten Mal begegnet waren. Als wir in den Laden traten, schlug hinter uns die Fliegengittertür mit dem Holzrahmen zu, und der Boden knarrte ein Hallo. Joe steckte in jeder Ecke. Jedes auch noch so banale Detail war auf einmal von Bedeutung. Die Einrichtung des Ladens – Mischling hin oder her – folgte einer eigenen Komposition, wie Joes Fotografien. Ich wusste nicht, wie er es gemacht hatte, nach welchen Kriterien Apfelsinen und Zitronen, Zwiebeln und Lauch, Rosenkohl und Artischocken und Kraut in der Obst- und Gemüseabteilung, die Gänge mit Dosen und Fertigpackungen, selbst das Fleisch und der Fisch in den Glasvitrinen angeordnet waren, aber irgendwie vervollkommneten sich die Produkte gegenseitig. Sobald man durch die uralte Fliegengittertür trat, den Deckenventilator surren hörte und das Potpourri aus altem Holz, frischem Gemüse und heißem Kaffee roch, die handgeschriebenen Tagesangebote auf der Tafel las, hatte man das Gefühl, in das Foto aus einer Zeit getreten zu sein, in der die Welt noch heil und gut war.
Und doch begann Joes Signatur schon zu verblassen. Seine Cousine Gina hatte sich zwar Mühe gegeben, doch ihre sorgfältige Schrift auf der Tafel erinnerte mehr an ein Klassenzimmer als an einen Lebensmittelladen. Obst und Gemüse sahen schlapp aus. Ich roch Bleichmittel, nicht Seife. Und am Ende eines Ganges bemerkte ich etwas, das nicht erst ein paar Tage alt war: eine dicke Staubschicht auf Suppendosen und Nudelpackungen.
Ich umarmte Gina, die sich so schlaff anfühlte, wie der Salat aussah, und ging nach oben in Joes Büro. Meine Hände fuhren über den Schreibtisch, dann zog ich die rechte Schublade auf und fischte unter mehreren Aktenmappen die mit der Aufschrift Lebensversicherung heraus. Da stand es: $ 50000. Marcella und Joe senior hatten sie ihm zur Hochzeit mit Paige geschenkt, Jahre vor der Geburt der Kinder. Inzwischen war ich als Begünstigte eingetragen, aber die Erhöhung des Betrages war noch in Arbeit. Ich fand die Formulare der Versicherungsagentur von Hank Halstrom, die Joe bereits teilweise ausgefüllt hatte. Aber dann war die Welle aus dem Nichts gekommen, und die Formulare lagen noch hier, warteten darauf, vervollständigt und abgeschickt zu werden. Darauf, dass der Laden besser lief und wir uns die höheren Prämienzahlungen leisten konnten.
Da, auf der ersten Seite, war seine jungenhafte Handschrift, die im Laden an der Tafel sein sollte. Mit dem Finger zeichnete ich die Buchstaben nach. Noch vor kurzem hatte er hier gesessen, über dieselben Formulare gebeugt, nur für den Fall, dass … irgendwann … Hatte er dabei über seinen Tod nachgedacht? Wie er sterben würde? Oder wann? Oder wie wir drei es schaffen sollten, am nächsten und übernächsten Tag ohne ihn aufzustehen?
Ich zog ein Papiertaschentuch aus der Tasche und trocknete damit die Träne, die auf das Formular gefallen war, dann drückte ich es auf die Augen, als könnte ich die Tränen zurück in ihre Drüsen schieben. In gewisser Weise war es schwerer, hier im Laden zu sein als zu Hause. Hatte ich das Büro jemals ohne ihn betreten? Er hatte als Letzter auf diesem Stuhl gesessen, als Letzter seine rauen Ellbogen auf diesen Schreibtisch gestützt, unsere Telefonnummer in dieses Telefon getippt, in diesen Hörer gesprochen und gesagt: »Hi, ich komme jetzt nach Hause, Milch und Erdnussbutter bring ich mit. Sonst noch was?«
Meine Mutter wartete bestimmt schon. Ich nahm die Versicherungsunterlagen und ein dickes Bündel ungeöffnete Briefe, die im Hefter mit der Aufschrift »Unerledigt« lagen.
Ich hatte mich nie mit den Rechnungen befasst. Als ich bei ihm einzog, gab es bereits ein funktionierendes Ordnungssystem; außerdem war ich chaotisch, was Papierkram betraf. Meine Mutter würde bestimmt sagen, dies wäre eine gute Gelegenheit, sich weiterzuentwickeln und den Papierkram zu bejahen. Eine gute Gelegenheit, mit der Heulerei aufzuhören und nach Hause zu Annie und Zach zu fahren.
Ich ging die Treppe hinunter, winkte und dankte Gina. Sie nickte. Die Augen hinter der Nickelbrille waren noch immer ein wenig geschwollen. Gina war erst vor kurzem aus dem Orden der Barmherzigen Schwestern ausgetreten und nach Elbow zurückgekehrt. Mit zweiunddreißig Jahren hatte sie beschlossen, keine Nonne mehr zu sein, hatte aber noch immer Mühe, mit der Entscheidung klarzukommen. Joe und ich nannten sie heimlich seine Ex-Nonnen-Cousine.
Als ich meiner Mutter die Tür aufhielt, wurde mir bewusst, dass seit unserer Ankunft kein einziger Kunde in den Laden gekommen war, und das zur Mittagszeit. Ich hatte zwar mitbekommen, dass die Geschäfte schleppend gingen, aber dass es so schlimm war …
»Hast du sie gefunden?«, fragte meine Mutter, als sie den Jeep rückwärts ausparkte.
Ich nickte. Schon nach wenigen Minuten fuhren wir die Kieseinfahrt zu unserem Haus hoch und wurden von Callie empfangen. Auf meinem Platz stand ein Ford Fiesta, bei dessen Anblick meine Mom und ich uns mit hochgezogenen Augenbrauen ansahen. Wir hatten beide keine Lust auf Gesellschaft, doch die Leute meinten es nur gut.
Die Schuhe der Kinder standen ordentlich aufgereiht neben der Haustür. Wie aufmerksam von ihnen , dachte ich und hob Annies knöchelhohen rosa Turnschuh hoch. Er war nicht einmal dreckig. Das hatten sie bestimmt bei Lizzie gelernt, die vermutlich zu den Frauen gehörte, die ein handgemaltes Schild mit DANKE FÜRS SCHUHAUSZIEHEN im Flur hängen hatten. Allerdings war ich nur wenige Male bei ihr gewesen, und das vor langer Zeit, und erinnerte mich nicht mehr, ob man die Schuhe ausziehen musste oder nicht. Zudem hatte ich nichts dagegen, wenn ein bisschen weniger Dreck ins Haus geschleppt würde. Doch auf der anderen Seite des Regenschirms standen Lederpumps von Kenneth Cole. Ich hatte Marcella noch nie in Schuhen mit höheren Absätzen als drei Zentimetern gesehen. Ich zog die Gittertür auf und rief so fröhlich ich konnte: »Banannie, Zachosaurus, ich bin zu Hause!« Niemand kam angerannt, um mich zu begrüßen. Niemand schrie Hallo, Mommy .
Ich trat ein, legte die Aktenmappe und Briefe auf den Tisch und blickte durchs Fenster, falls sie im Garten spielten und ich es nicht mitbekommen hatte. In dem Moment hörte ich Annie in ihrem Zimmer kichern, lief den Flur entlang und öffnete die Tür. Sie und Zach saßen in unserem Schaukelstuhl auf Paiges Schoß. Zach pinselte sich mit einer Strähne ihrer seidigen Haare über die Wange. Paiges Arme umschlossen die beiden wie ein runder Zaun, mit dem offenen Buch in ihren Händen als Tor. Es war ein Buch aus der Kiste im Schrank, von P. D. Eastman. Der Titel sprang mich geradezu an: Bist du meine Mutter?
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