Ich schüttelte den Kopf und zwang mich zu dem Lächeln, das mir den Gehorsam verweigerte und sich nicht freiwillig zeigen wollte. »Nichts.«
»Du magst Mama nicht, stimmt’s?«
»Na ja …« Ich wählte meine Worte mit Bedacht, eliminierte die Tirade in meinem Kopf, so dass Verdammt richtig, ich ertrage ihren Anblick nicht, ich will nicht, dass sie dich anruft oder berührt oder kennt nicht über meine Lippen kam, sondern nur der mühsam zusammengestückelte Satz: »Ich … ich kenne sie nicht.« Und das: Aber wie sollte ich auch, wo sie euch nicht ein einziges Mal in den letzten drei Jahren besucht oder wenigsten angerufen hat? Nette Mutter, ihr wart ihr anscheinend egal , kam heraus als: »Aber sie … scheint … nett zu sein.« Wahrheit klingt anders.
Doch Annie, süß und aufrichtig, bestritt hoffnungsvoll ihren Teil der Unterhaltung. »Sie ist sehr nett. Sie mag dich. Ich glaube, ihr könntet Freunde werden, so wie du und Lucy.« Die Handflächen nach oben, zuckte sie mit den Schultern, als wolle sie sagen: Wo ist das Problem?
»So, du magst sie also, ja?« Ich kitzelte sie so lange, bis sie kreischte, dann ließ ich sie runter. »Wie wär’s mit Frühstück?«
»Zachosaurus!« rief Annie, ganz die große Schwester, lief los und glitt rutschend zu ihm hin. Er war gerade im Schlafanzug in der Tür erschienen, hatte seinen Bubby und den Brontosaurus in der Hand, und seine Haare standen in allen Richtungen ab, wie bei einem verwirrten Kompass. Ich nahm ihn auf den Arm und sog seinen Duft ein. Zachosaurus. Niemand sonst nannte ihn so, nur Joe und Annie und ich. Würde Paige ihn jetzt auch so nennen?
Während die Kinder Eier im Hühnerstall sammelten und meine Mutter schlief, saß ich auf der hinteren Veranda und trank noch mehr Kaffee. Meine Gedanken schwirrten von Annie und Zach zu Paige und von Joe zu unserem Bankkonto. Ich sah zu den Bäumen, die immer eine beruhigende Wirkung auf mich hatten. Die Redwoods standen da wie unsere persönlichen Wächter; mit mächtigen, kerzengerade aus dem Boden ragenden Stämmen. Die Äste waren so dick, dass wir schon Wildtruthähne darauf hocken gesehen hatten. Groß wie Labradore saßen sie zusammengedrängt beieinander, kaum fähig, sich von einem Ast zum anderen zu bewegen, aber mit einem schrillen Gelächter, das uns jedes Mal erschreckte, als säße dort oben ein Haufen tratschender britischer Ladys. Wir konnten sie stundenlang beobachten.
Unsere Eichen hingegen glichen weisen, arthritischen Großeltern, von denen man gewöhnlich etwas Nützliches lernte, wenn man sich eine Weile mit einem Stuhl dazusetzte und lauschte. Die Obstbäume waren wie unsere geschätzten Tanten, im Frühling herausgeputzt und reichlich parfümiert, und im Sommer beschenkten sie uns mit Äpfeln, Birnen und Aprikosen, die sie eimerweise fallen ließen, mehr als wir je essen konnten, als wollten sie sagen: Mangia! Mangia!
Als meine Mutter sich dann nach ihrem Nickerchen mit einem Kaffee zu mir setzte, fühlte ich mich dank der Gruppentherapiesitzung mit den Bäumen schon etwas besser. Verhungern würde ich ganz bestimmt nicht.
»Wow«, sagte sie. »Letzte Nacht bin ich sofort eingeschlafen und hab dich nicht einmal kommen hören.« Sie nippte an ihrem Kaffee. »Jelly Bean, meine Süße.« Sie beugte sich vor und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wir müssen reden. Ich fliege morgen zurück, und wir hatten noch keine Gelegenheit, über die Lebensversicherung und deine finanzielle Situation generell zu sprechen. Ich kann helfen, dir einen Überblick zu verschaffen, aber übermorgen werde ich wieder bei der Arbeit gebraucht.«
Ich verschwieg ihr, dass ich gar nicht geschlafen hatte und kaum in der Verfassung war, über das zu reden, was ich herausgefunden hatte. Und über meine Situation insgesamt hatte ich mir nicht einmal ansatzweise Gedanken gemacht. Denn während sie bei bestimmten Dingen absolut stoisch reagierte, wie zum Beispiel, als Zach den gesamten Windelinhalt übers Kinderbett verteilt und jeden einzelnen Holzgitterstab sorgfältig beschmiert hatte, würde sie wegen meines finanziellen Dilemmas hundertprozentig ausflippen. Meine Mutter arbeitete als Buchhalterin für eine gemeinnützige Organisation. Sie verdiente nicht viel Geld, doch lebte genügsam und war, mit Hilfe der Lebensversicherung meines Vaters, niemals in finanzielle Not geraten. Und so sagte ich: »Es ist alles in Ordnung. Ich muss in den nächsten Wochen nur mal mit einem Buchhalter reden.«
Sie nippte an ihrem Kaffee und sah mich eindringlich an. »Du bist erschöpft. Kannst du schlafen?«
Ich zuckte die Schultern, machte eine wippende Handbewegung.
»Dann ruh dich doch heute aus, ich kümmere mich um die Kinder. Wir gehen in den großen Freizeitpark oder irgendwo anders hin, wo sie sich austoben können, dann sind sie genauso erschöpft wie wir.«
Ich war müde. Doch die Kinder brauchten mich, und ich brauchte sie. Ihre leibliche Mutter fing an, sie zu umkreisen, und ich wusste nicht, ob sie einen Landeplatz suchte oder auf Beutejagd war und jeden Moment Annie und Zach an sich reißen würde, oder, bestenfalls, aus der Ferne das Nest beobachten wollte, das sie Jahre zuvor verlassen hatte.
»Lass uns alle zusammen gehen. Ich will mit euch allen was unternehmen.«
»Du wirst noch viel Zeit mit Annie und Zach verbringen, Liebes. Jede Menge. Und ich komme zurück so schnell es geht. Du musst jetzt auch gut für dich selbst sorgen.«
»Ich muss eine Mutter sein. Ich muss mich wieder fangen. Lass mich noch drei Tassen Kaffee trinken und duschen, dann bin ich bereit.«
Als ich zurückkam, blätterte meine Mutter gerade kopfschüttelnd durch eines unserer Fotoalben. »Ihr habt die Kunst des Picknicks wirklich perfektioniert.«
Ich setzte mich auf die Sofalehne. Wir waren mit den Kindern immer nur zusammen mit den Großeltern in Freizeitparks gewesen. Joe und ich mieden sie, dafür machten wir so oft wie möglich Picknicks, die wir vier alle gleich gern mochten, aber aus unterschiedlichen Gründen. Joe konnte seine Fotos machen und gleichzeitig mit seiner Familie zusammen sein. Mich begeisterten die mit Redwoods gesäumten Wanderwege und die vielfältige Tier- und Pflanzenwelt. Die Kinder liebten es, Insekten zu fangen und herauszufinden, ob ich ihren Namen kannte. Annie hatte für all die Insekten, Blumen und Vögel ein kleines Buch, in das sie sorgfältig jeden Buchstaben schrieb, den ich ihr sagte.
Und natürlich aßen wir alle sehr gern. Bei unseren Picknicks gab es nicht die typischen Erdnussbutter-mit-Marmelade-Brote, sondern Salate und Brotaufstriche mit Zutaten aus unserem Garten, wobei ich eine ungekannte Freude am Kochen entwickelte. Wir hatten zwei Kinder, die alles aßen, und ich probierte immer wieder Neues aus, so dass wir uns hinterher zurück ins Gras legten und stöhnten, wie gut wieder alles geschmeckt hatte.
»Oder würdest du heute lieber ein Picknick machen?«, fragte meine Mutter. »Das wäre wahrscheinlich einfacher, wir haben noch so viel Essen im Kühlschrank.«
Ich schüttelte den Kopf. Jetzt ein Picknick ohne Joe zu machen, wäre wie mit einem stumpfen Messer ein Loch mitten in mich reinzuschneiden … und für Annie und Zach wäre es sicher nicht viel anders. »Nein. Wir fahren ins Great America, den Freizeitpark hier in der Nähe. Das Land der unbegrenzten Dollars, Heimat der tapferen Mütter und Großmütter! Genau das machen wir!«
Wenn wir nach diesem Tag vom Great America sprachen, nannten wir es immer nur Grässliches Amerika , und das war nicht politisch gemeint. Dass der Ausflug schiefgelaufen war, hatte mit meinem Schlafmangel zu tun, mit meinem toten Ehemann, der großen Hitze und den Kindern, die viel zu viel Zuckerwatte und Eiscreme aßen; und nicht zuletzt damit, dass ich meine Menstruation bekam und mein Körper die Gelegenheit nutzte, alle Gefühle rauszulassen – wozu plötzlich auch gehörte, dass ich stinksauer wurde. Die Hitze über fünfunddreißig Grad backte alles und jeden, so dass nur eine Fahrt mit der Big-Splash-Achterbahn attraktiv klang. Wir standen eine Stunde und fünfunddreißig Minuten in der Warteschlange, bevor uns klarwurde, dass Zach dafür viel zu klein war. Annie und meine Mutter standen weiter an, doch ich blieb mit Zach zurück, der sofort einen Schreianfall bekam. Und zwar nicht nur, weil er keine Achterbahn fahren durfte, sondern weil er auch bei meiner Mutter bleiben wollte, die er in der letzten Woche mehr und mehr ins Herz geschlossen hatte.
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