Zach war immer ein ganz gelassenes Kind gewesen, so dass ich wenig Erfahrung mit solchen Anfällen hatte – er schrie, hüpfte auf und ab und warf sich schließlich auf den Boden und wollte nicht wieder aufstehen. Die Leute blieben stehen und starrten uns kopfschüttelnd an. Ich stand einfach nur da. Was sagten die Experten in so einem Fall? Ich versuchte, mich an Ratschläge aus einem der Elternhefte zu erinnern, die ich im Wartezimmer des Arztes gelesen hatte. Weggehen? Ja, genau. Mit Hunderten Menschen drum herum. Nicht nachgeben. Nicht belohnen. Schließlich beugte ich mich zu ihm hinunter und schrie über sein Gezeter hinweg: »Zach! Hör mir zu! Hör auf zu schreien, dann kaufe ich dir noch eine Zuckerwatte! Was hältst du davon?« Er heulte weiter. »Zuckerwatte, Zach! Hast du verstanden?«
Plötzlich hörte er auf zu weinen, wischte sich mit dem Arm über die Nase. »Und ein Slushee?«
»Und ein Slushee.«
Er stand auf und nahm meine Hand. »Kein Wunder«, sagte eine Frau, und ein Mann: »Gratuliere, Kumpel, hast deine Eltern gut im Griff.«
Ich trat dicht vor den Kommentator mit dem aufgedunsenen, verschwitzten Gesicht und stieß zwischen den Zähnen hervor: »Er hat keine Eltern – Plural – mehr, Kumpel. Weil sein Vater nämlich gerade gestorben ist, Kumpel.«
Wir gingen weg, ohne uns umzudrehen. Ich kaufte Zach eine weitere Zuckerwatte und ein Wassereis mit Kirschgeschmack, und bald waren seine Lippen so rot wie seine Augenränder.
Als dann meine Mutter mit Zach einen Tisch ansteuerte, damit er den Süßkram in Ruhe fertig essen konnte, ging ich mit Annie zum Riesenrad. Keine Ahnung, wieso ich dachte, es könnte Spaß machen, in einem kochend heißen Metallkorb zu sitzen, jedenfalls taten wir genau das. Als dann die übellaunige Dame, die das Karussell bediente, das Rad plötzlich anhielt und ihren Platz verließ, saßen wir zehn Minuten lang fest und wünschten inständig, dass ein anderer Mitarbeiter übernehmen würde oder Gott uns wenigstens eine kühle Brise schickte oder besser noch einen Regenschauer. Wo war der Nebel, wenn man ihn brauchte? Jemand verkündete durch ein Megaphon, dass gleich ein Ersatz kommen würde. Toll. Während meines Studiums hatte ich in einer Arztpraxis gearbeitet, wo man uns beibrachte, zu sagen, der Arzt würde sich gleich um einen kümmern – niemals in einer Minute . Gleich war subjektiv, ohne konkreten Zeitrahmen.
Anfangs hatte Annie mich noch frohgemut auf die verschiedenen Fahrgeschäfte hingewiesen und die Aussicht genossen, doch dann fing sie an zu jammern. »Wie lange denn noch? Ich muss Pipi. Ich hab Hunger. Mir ist heiß. Ich will nach Hause.«
Ich wollte wissen: Wie konnte jemand einfach weggehen und uns mitten in der Luft hängen lassen? Aber das sollte ich vielleicht Paige fragen. Wie sagte man seinen kleinen Kindern und seinem Ehemann: »Ich will nicht mehr. Und tschüs«, ohne sich jemals umzudrehen? Sie einfach so hängenlassen, dass sie sich nicht vom Fleck rühren konnten, bis schließlich ein Ersatz namens Ella kam und die richtigen Knöpfe drückte. Die Ersatzmutter, die Ersatzfrau. War ich das für sie? War ich das? War das alles, was ich war? Aber nachdem ich zehn Minuten da oben gesessen hatte, liebte ich den Ersatz, der uns endlich erlöste. Ich hätte die Frau am liebsten umarmt, als sie uns schließlich unten absetzte, und sagte: »Vielen Dank! Ohne Sie hätten wir nicht überlebt.« Die Frau nickte gelangweilt und wies uns den Weg zurück zu den Menschenmassen. Annie sagte: »Mommy, warst du da eben nicht ein bisschen zu dramatisch?«
Obwohl wir gerettet waren, ging es an dem Tag weiter bergab. Ich schleppte mich mit zusammengekniffenen Augen durch die Gegend. Die Sonne war zu grell, es gab zu viele Primärfarben, zu viel Lärm. Und mit den lautesten machte Zach, der jedes Mal, wenn meine Mutter seine Hand losließ, einen Trotzanfall bekam. Ihr Besuch der Toilette kostete mich einen Churro – spanisches Fettgebäck – und ein weiteres Slushee, diesmal mit Traubengeschmack.
Auf dem Nachhauseweg blieben wir im Berufsverkehr stecken, der in der Bay Area mit dem stets wachsenden Einzugsgebiet bereits um drei Uhr nachmittags einsetzt. Die Kinder stritten sich um jedes Spielzeug wie wilde Hunde um ein Steak, und meiner Mutter, die für ihr jugendliches Aussehen immer Komplimente bekam, sah man jedes ihrer zweiundsechzig Jahre an, wenn nicht noch mehr. Die Klimaanlage war defekt, und man hatte das Gefühl, als puste uns jemand mit hohem Fieber durch die Lüftungsklappen an. Als ich dann im Rückspiegel beobachtete, wie Annie Zach seinen Bubby wegreißen wollte, schrie meine Mutter plötzlich: »Ella! Stopp!« Ich stieg voll in die Bremsen und verhinderte im letzten Moment, dass wir in den gelben Hummer krachten. Wer das überlebt hätte, war klar. Jedenfalls nicht wir.
Ganz ruhig sagte ich zu meiner Mutter: »Um ein Haar hätten wir einen Unfall gehabt. Unfälle passieren zufällig und ohne Vorwarnung. Joe ist bei einem Unfall ertrunken, und jetzt hätten wir bei einem Unfall umkommen können. Einfach so.«
»Jelly? Ist alles okay mit dir?«
Ich zitterte von Kopf bis Fuß, und die Kinder stritten unbeirrt weiter. Ich umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen und schrie: »Gottverdammt! Ich kann so nicht fahren! Ihr zwei haltet jetzt den Mund! Haltet endlich den Mund!«
Das taten sie dann auch. Auf der ganzen Fahrt nach Hause sagte keiner von uns mehr ein Wort, nur die Stimme in meinem Kopf wiederholte immer und immer wieder: Du, meine Liebe, bist die schlechteste Mutter auf der ganzen Welt.
Als ich in die Einfahrt bog, kam Callie zur Begrüßung angerannt, doch die Kinder waren komplett k.o. Annies Wangen leuchteten rosa, obwohl ich sie mit Sonnenschutz eingecremt hatte. Zachs Gesicht klebte am Kindersitz, er sabberte sein T-Shirt voll, das jetzt lauter rote und violette Flecken hatte, genau wie seine Lippen und das Kinn. Die Slushee-Spuren sahen wie Blutergüsse aus, doch der Schaden, den mein Wutanfall angerichtet hatte, schien mir viel größer. Mir war, als könnte ich ihre Flügel sehen, so engelsgleich waren sie im Schlaf. Niemals könnten sie einen Erwachsenen dazu bringen, sie lauthals anzubrüllen. Als ich Zach vorsichtig aus seinem Sitz holte, baumelten seine Arme und Beine locker und schwer an ihm herab, und sein Kopf rollte herum, bis er dann an meiner Schulter liegen blieb. Er stieß einen langen Seufzer aus. Dies waren meine Engel, die gerade ihren Vater verloren hatten. Deren leibliche Mutter es plötzlich in Ordnung fand, aus der Ferne in unser Leben einzudringen, nur um sie daran zu erinnern, dass sie sie verlassen hatte. Und jetzt hatte ihre böse Stiefmutter sie angeschrien, weil sie sich wie Kinder benommen hatten.
Wir brachten sie ins Bett und gingen auf Zehenspitzen in die Küche. »Es tut mir leid«, sagte ich meiner Mutter.
»Was denn?«
»Na ja, dass ich im Auto ausgeflippt bin.«
»Ach, Bella, das ist doch verständlich. Sie waren völlig überdreht, und du bist erschöpft. Sei nicht so streng mit dir.«
»Aber es war klar, dass sie in dieser Phase verrücktspielen würden.«
»Das heißt trotzdem nicht, dass sie im Auto rumschreien und sich streiten können. Es war eine angespannte Situation. Du hattest keine Zeit, sie daran zu erinnern, ›eine angemessene Lautstärke und freundliche Worte‹ zu benutzen.«
»Ich hab ja nicht einmal selbst daran gedacht, freundliche Worte zu benutzen. Ich kann mich nicht erinnern, dass du mich jemals so angeschrien hast.«
»Wirklich nicht?« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Sicher? Na ja, nach dem Tod deines Vaters warst du extrem schweigsam. Davor hast du geredet wie ein Wasserfall. Du hast überall deine Nase reingesteckt und bist stundenlang mit deinem kleinen Notizbuch verschwunden. Kinder fangen ja mit drei an, warum, warum, warum zu fragen, aber du hast das auch später noch gemacht, als du schon acht warst.« Sie schüttelte den Kopf. »Du warst ein echtes Temperamentbündel und ziemlich anstrengend. Aber dann bist du ganz still geworden, und von deinem übermütigen Wesen war nichts mehr zu spüren.«
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