Kurelen stand unverändert über seine Schwester gebeugt und ließ seine Hand auf ihrer Stirn ruhen. Er war still. Immer rätselhafter sah sein Gesicht aus. Er kniff die Augen zusammen. In der Jurte spielte sich eine gräßliche Kraftprobe ab. Es war der Kampf zwischen dem Willen der Schlafenden und jenem des Mannes, der sie zu wecken versuchte. Über dem Bett rangen zwei unsichtbare Widersacher miteinander. Sie hielten sich umklammert und starrten einander an. Der Kampf setzte sich Minute um Minute fort. Etwas lag in der Luft, das die Schreie des Kindes verstummen machte, und der Kleine wimmerte leise vor sich hin, als fürchte er sich. Schweißperlen traten auf Kurelens gefurchte Stirn. Langsam kollerten sie wie Quecksilbertropfen über seine Lippen. Die Dienerin zog in schmählicher Freude die Schultern hoch.
Stumm befahl Kurelen dem Willen seiner Schwester: Erwache. Du mußt erwachen. Du kannst nicht über mich triumphieren. Houlun, erwache!
Aber Houlun schlief. Ein heimtückisches Lächeln spielte um ihre Lippen.
Aufmerksam hob Kurelen den Kopf. Von draußen näherte sich Unruhe. Es war Jesukai, den Kokchu, Kurelens Todfeind, begleitete, und einige der freudig erregten Krieger. Hundegebell lief ihnen wie der Trompetenstoß eines Heeres voraus. Kurelens nasse Lippen waren plötzlich wie ausgetrocknet. Salzwasser füllte seinen Mund. Wut und Angst stiegen in ihm hoch. Seine Augen verengten sich und glühten.
Wie besessen neigte er sich neuerlich über seine Schwester. Er packte ihre Hände, drehte sie nach innen, daß man das zarte Knacken der Knochen laut in der atemlosen Stille der Jurte vernahm. Dann drückte er ihr seine Daumen an die Lider und öffnete sie gewaltsam. Seine Bewegungen verrieten Hast, Panik und wachsende Wut. In Gedanken sagte er voll Angst und Verachtung zu seiner Schwester: du bist ein Feigling, weil du nicht erwachen willst. Aber erwache für mich. Sie stehen am Zelteingang und werden gleich eintreten. Wenn du nicht erwachst, werden sie mich töten. Ich befehle dir im Namen unserer Liebe, wach auf, Houlun! Ich hasse das Leben, aber den Tod hasse ich mehr und vor allem hasse ich den Schmerz. (Ihre glasigen Augen starrten ihn wie die einer Toten an.)
Dunkel und drohend schob Jesukais Gesicht sich durch den. Eingang. Er kam ins Zelt. In Houluns Kehle stieg wie Luftbläschen ein schwaches Seufzen auf. Sie bewegte den Kopf. Die Dienerin schluckte ihre saure Enttäuschung hinunter. Geschäftig rief sie Jesukai zu, der sich, den kurzen Krummsäbel in der Hand, dem Bett näherte: „Er hat sie behext!“ Hinter Jesukai erhob sich dräuend die hochgewachsene, hagere Gestalt des Schamanen, dessen langes Gesicht in gehässiger Vorfreude grinste.
Kurelen stand aufrecht. Er war bleich und sah vor Erschöpfung elend aus. Er betrachtete seine Schwester und wußte, daß er gewonnen hatte. Mit ruhiger Stimme verkündete er: „Sie hat viel gelitten und tief geschlafen. Aber jetzt erwacht sie, um ihren Herrn zu begrüßen.“
Jesukai sagte nichts, sondern stand nur am Bett seiner Frau. Er faßte Kurelen drohend ins Ange. Dann stöhnte Houlun neuerlich, bewegte ihren Kopf auf den Kissen, als hätte sie Schmerzen, und schlug die Augen auf. Sie waren noch immer glasig, aber schon schimmerte ein blasses Licht des Erkennens in ihnen. Und auch sie sah einzig auf Kurelen.
Er lächelte sie an, wie ein Kind, das die finstere Straße des Todes hinter sich gelassen hat. „Du hast lange geschlafen, meine Schwester“, sagte er mit unsagbar sanfter Stimme.
Wütend vor Enttäuschung und Haß kam der Schamane jetzt näher. „Und du hast sie doch behext!“ beschuldigte er ihn. „Es ist nicht deine Leistung, daß sie nicht gestorben ist!“
Aber Kurelen übersah ihn, wie ein Edelmann einen Hirten übersehen mag. Mit nachsichtigem Lächeln sagte er zu Jesukai: „Sie wird lange leben, um dir noch viele mächtige und schöne Söhne zu schenken.“
Unschlüssig kratzte Jesukai sich hinter den Ohren. Er begann an seinem im Gürtel steckenden Säbel zu zerren. Er sah Houlun an und ein dümmliches Lächeln breitete sich über sein Gesicht. Er liebte sie sehr. Er neigte sich über sie und küßte sie leidenschaftlich auf den Mund. „Ich habe viele Schätze mitgebracht, Houlun, und du sollst dir davon aussuchen, was dir gefällt, denn du hast mir die größte Kostbarkeit meines Lebens geschenkt.“
Der Schamane schnitt eine verächtliche Grimasse. Er drehte sich um und fixierte Kurelen wütend. Der aber grinste nur und stemmte ihm einen langen, verkrümmten Finger gegen die heilige Brust.
„Wieder darfst du zur Feier des Tages nur Schaf- oder Pferdefleisch opfern, Kokchu“, sagte er. „Aber mach dich ans Werk! Du weißt geschickt mit dem Messer umzugehen und verstehst es bestimmt, die Qual der Tiere kunstvoll zu verlängern.“
Empört schlug Kokchu den krummen Finger beiseite. Er tat einen heftigen Schritt, als schauderte er vor einer gotteslästerlichen und unsauberen Berührung zurück. Haß und Wut verzerrten sein Gesicht. Seine Augen sprühten Funken. Kurelen brach in schallendes Gelächter aus.
„Verschwende nicht deine Vorstellungskraft an mich, Kokchu! Geh hinaus und denk nach, damit du diesem edlen Sohn der Jakka-Mongolen großartige Prophezeiungen erstellen kannst! Aber ich weiß, daß du nach Art der Priester die erstaunlichsten Dinge hervorzaubern wirst!“
Prustend vor Lachen verließ er die Jurte.
IV
Er war bester Stimmung und sehr übermütig und lachte laut vor sich hin, während er seinen krummen Körper zwischen den Jurten hindurchschob. Die finsteren Blicke, die ihn von allen Seiten trafen, schien er gar nicht zu bemerken. Endlich blieb er stehen. Zwei der Gefangenen, der buddhistische Mönch und der nestorianische Priester, kauerten niedergeschlagen auf ihren Habseligkeiten und wischten sich mit den Ärmeln den Staub aus den Gesichtern. Keiner schenkte ihnen besondere Beachtung, obwohl eine Schar von Hunden sie drohend verbellte. Kurelen versetzte dem Leittier des Rudels einen Fußtritt, daß der Hund sich aufheulend aus dem Staube machte und die übrigen nach sich zog.
Kurelen sah sich die Gefangenen interessiert an. Der buddhistische Mönch hatte eine Haut wie gelbes Elfenbein und ein sanftes, gütiges Gesicht. Seine schrägen Augen spiegelten unendliche Geduld wider. Sein wollenes Gewand hing ihm in Fetzen vom Leib und seine nackten, staubverkrusteten Füße bluteten. Er hatte seinen spitzen Hut abgelegt und die gnadenlose Sonne schimmerte wie ein feuriger Heiligenschein um seinen kahlen Schädel. An seinem Gürtel hingen seine Perlen und seine Gebetsmühle. Er hatte die Hände im Schoß gefaltet und schien in schwermütige und übernatürliche Träumereien versunken zu sein. Der christliche Priester hingegen war von kühnerem Gehaben. Kurelen stellte stillschweigend fest, daß dieser Mann ein Barbar und, zum Unterschied von dem Mönch, kein Angehöriger der zivilisierten Rasse Kathais war. Er hatte ein dunkles, jähzorniges Gesicht und forschende, gierige Augen. Immer wieder kratzte er sich ungeduldig den zerzausten Bart und das Haar und erschlug die aufgescheuchten Läuse mit einem gewissen sadistischen Vergnügen. Seine wollene Robe war nicht zerschlissen und der Berg seiner Habseligkeiten bedeutend größer als jener des Mönchs. Außerdem trug er einen beachtlichen Dolch in einer Elfenbeinscheide. Er war von den beiden der Größere, Männlichere und Jüngere.
Kurelen wußte nicht sofort, wie er ihn einstufen sollte. „Aus welchem Lande kommst du, Priester?“ fragte er.
Der Mann starrte ihn so lange kampflustig an, daß Kurelen schon glaubte, er hätte seine Sprache nicht verstanden. Schließlich antwortete er mit knappen Worten und mit einem Akzent in Kurelens Sprache: „Aus dem Lande des Aralsees.“
Kurelen lächelte. „Du wirst in unserem Schamanen eine artverwandte Seele finden“, bemerkte er. Dann wandte er sich an den buddhistischen Mönch, der ihn nicht beachtet hatte, da er sich völlig seinen schwermütigen Träumen hingab. Ihn redete er in der Sprache Kathais an, und bei diesem geliebten Klang hob der Mönch den Kopf, lächelte, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
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