Seine beiden Söhne hatten offensichtlich andere Vorbilder. Sie sprachen hin und wieder, wenn sie kamen, über antiautoritäre Erziehung. Er hielt nichts davon. Monster würde das geben, die keine Grenzen kennen, fürchtete Jakob. Marcel hatte ihm von dem Experiment einer Internatsschule in Amerika erzählt, von Summerhill. Jakob konnte sich nicht vorstellen, dass daraus etwas Gutes würde. Aber die ganze Bewegung genügte, um die jungen Leute, die jetzt die Verantwortung hatten, zu verunsichern – und das war seiner Meinung nach schlechter als eine konsequente Haltung mit Strafe oder Belohnung dank klarer Unterscheidung zwischen richtig und falsch, gut und böse oder Recht und Unrecht. Heute strafen, morgen nicht, aber übermorgen …, das konnte doch nicht gut gehen.
Nun, beim geschiedenen Sohn Marcel war das alles jetzt ohnehin schwierig. Seine beiden Kinder lebten bei der Mutter. Sie wurden ihr zugesprochen, und die kehrte mit ihnen zurück an den Bielersee. Jakob sah die beiden Enkel nur noch selten. Denise war jetzt 14 und Romain 12 Jahre alt. So verging die Zeit.
Er holte sich in der Küche ein Bier und sah wieder den jungen Gretler vor sich, der heulend mit seinem Vater, seinem leeren Kessel und der Schaufel davontrappelte. Warum konnte er diese Szene nicht vergessen und warum warfen die Jungen gleich die Flinte ins Korn, wenn’s in ihren Ehen nicht klappt? Als er Martina geheiratet hatte, liess sich noch kaum jemand scheiden. Jetzt aber wurden je nach Gegend bereits zehn von hundert Ehen geschieden! Das konnte nicht gut gehen, vor allem auch der Kinder wegen. Dabei hatte bei Marcel und Charlotte alles so wunderbar begonnen.
Jahre später, erinnerte er sich, war der junge Gretler noch einmal in die Schmiede gekommen. Er wollte Schmied werden. Jakob hielt den Jungen dafür nicht stark genug, er war ihm zu schmächtig für den harten Beruf, und zudem hatte Waldemars Vater ohnehin andere Pläne mit dem Jungen. Der Gretler Kari verschaffte ihm im «Fürstlichen Walzwerk» eine Lehrstelle als Mechaniker oder Werkzeugmacher. Und wieder war da das enttäuschte, beinahe traurige Gesicht, an das sich Jakob erinnerte.
Martina war vor dem Fernseher eingenickt. Er rief ihr zu, er gehe schlafen.
Jakob schlief lange nicht ein und wachte danach immer wieder auf. Dem Frühling und dem Alter gab er die Schuld. Immer wieder waren es Erinnerungen, die ihn wach hielten, zum Beispiel an seinen Vater, der ihn ab und zu noch immer in Träumen bedrängte, ihn mit dem Schmiedehammer verfolgte, Jakobs Hand in der Esse zum Glühen brachte und danach auf dem Amboss die offenbar stählernen Finger schmiedete, der ihn verfluchte, weil er das edle Gewerbe aufgegeben und die väterliche Schmiede verkauft hatte.
Da war auch Susanne, der es nicht gelingen wollte, einen Mann zu finden, was ihn wach hielt. Allerdings grämte er sich ihretwegen weniger als Martina. Vielleicht hatte es auch sein Gutes, dass Susanne nicht verheiratet war. Vielleicht ersparte sie sich damit eine Scheidung. Auch um Aldo, seinen zweiten Sohn, machte er sich Sorgen, weil Aldo so viel reiste und arbeitete und nur wenig Zeit für seine Familie hatte. Dabei waren die Zwillinge Sibylle und Sophie die reine Freude, gesund, hübsch, fröhlich, klug und gut erzogen. Vielleicht war Miriam nicht immer einfach, aber welche Frau war das schon?
Es waren keine zusammenhängenden Bilder, die ihn bedrängten, eher von Blitzen erhellte Augenblicke mit Kindern, Mädchen, Susanne, Pferden, Frauen, Cecile.
Seit 15 Jahren beherrschte und begleitete ihn Cecile in seinen Tagen und Nächten. Nicht immer – auch nicht mehr immer so leidenschaftlich – aber fast immer nur, wenn er es wollte. Manchmal schämte er sich deshalb, weil er sich danach als kleinen Wichser sah, der mit Martina schlief und dabei von Cecile träumte. Nie hatte er darüber mit Martina oder gar mit Cecile gesprochen, mit niemandem. Die lustvollen Träume mit Cecile waren seine Seitensprünge – Cecile war die Mutter von Charlotte, der Frau seines ältesten Sohnes Marcel, die Grossmutter von Denise und Romain.
Jakob war 48 Jahre alt, als er Cecile kennen lernte, – er und Martina also seit beinahe 25 Jahren verheiratet, die letzten fünf Jahre geradezu lustvoll. Die Pille war aufgekommen, und der Deutsche Kolle ermunterte müde Paare, sich mehr Freude zu machen.
Martina erzählte ihm damals, die Frauen in der Fabrik ereiferten sich über Kolle – lachend und witzelnd oder empört und schimpfend. Zum ersten Mal, seit er verheiratet war, machte ihn Martina an und schleppte ihn ins Bett – Jakob wusste nicht, was er davon halten sollte. Bisher war Martina eine Frau gewesen, die es sich einfach gefallen liess – eher hin als wieder. Manchmal hatte er sich gewünscht, zu einer Hure zu gehen, die ES ihm machte, die ihm die Hosen aufknöpfte und das Ding herausholte. Plötzlich tat es Martina. Es war schamlos, seine Frau war schamlos, seine keusche Frau, von der er bisher einfach nahm, was ihm zu gehören schien, und die es sich, weil sie ihn zu lieben hatte, einfach gefallen liess. Er schwankte zwischen zwei Welten. Es war absurd und doch so entsetzlich lustvoll, hinreissend, ein neues Leben. Endlich konnte er sich mit Martina so vergnügen, wie er sich das einst erträumt und später resigniert für unmöglich gehalten hatte, genauso vögelte sie ihn, wie er sich das schon immer gewünscht hatte, sowas hätte er ihr nie zugetraut. Um ganz sicher zu gehen, nahm die 42-jährige Martina jetzt die Pille – dem Papst und all seinen Kardinälen zum Trotz, wie sie zu witzeln wagte. Auch das war neu.
Beide waren sie gläubig. Er sang im Kirchenchor, beinahe jeden Sonntag, aber er ging kaum zur Beichte oder zur Kommunion, obwohl Letzteres seit dem Konzil lockerer zu haben war – man brauchte nicht mehr nüchtern zu sein – und wer seine Sünden mit Inbrunst bereute, konnte die Beichte auf später verschieben. Bestimmt gab es einen Gott, und vermutlich war es für die Seele und das Leben nach dem Tod richtig und wichtig zu glauben und hin und wieder zu beten. Martina war beinahe fromm. Als Mädchen war ihr die göttliche Mutter ein Vorbild, und bis zur Hochzeitsnacht mit Jakob war sie Jungfrau gewesen. Sie ging immer wieder beichten und bedauerte es, als das Latein der Messe den deutschen Gebeten weichen musste. Schliesslich war sie froh, Marcel mit der katholischen Charlotte verheiratet zu wissen. Es war besser so, auch einfacher.
Jakob konnte es nicht lassen, sie zu fragen, ob sie denn die neuen Bettgeschichten dem Beichtiger erzählen würde. Da sagte sie, was er von ihr noch nie in solcher Tiefe gehört hatte: «Nein, da gibt es nichts zu erzählen, denn ich habe dich lieb, und da dürfen wir alles tun, was uns Freude macht» – und sie ergänzte, diese vielleicht gut meinenden und doch meist weltfremden Wasserprediger hätten in ihrem Bett nichts verloren.
Jakob kam es vor, als ob er 20 Jahre neben und mit einer anderen Frau geschlafen hätte. Vielleicht hatte es auch mit dem neuen Leben im Chalet zu tun. Martina war glücklich, dass er Esse und Amboss aufgegeben hatte. Seine Arbeitstage waren lang und schwer gewesen und die Arbeit schmutzig, und immer hatte Jakob nach Kohle, Eisenstaub und Pferdemist gerochen. Jetzt war er am Abend immer früh zu Hause und den Gestank aus der Siederei konnte er sich vor Arbeitsende wegduschen. Auch in der Wohnung gab es weniger Staub, weniger Wäsche, bessere Luft.
Und dann lernte er Cecile kennen. Verfluchte wunderbare Lust.
Am neuen Leben im Bett änderte das nichts – im Gegenteil. Natürlich lernten er und Martina jetzt endlich, über ihr Erleben zu reden. Sie erdachten sich gemeinsam fantasievolle Bilder, an die sie sich bisher nie gewagt hätten, und sie lasen das Dekameron und das Kamasutra, die Abenteuer des Kin Ping Meh, kauften verschämt Magazine mit eindeutigen Anleitungen und verführten sich flüsternd zum Partnertausch, geilten sich daran auf, ohne solches je wirklich anzustreben. Martina hatte Updikes Paare nach Hause gebracht. Sein Inhalt wirkte lange nach.
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