Sie verbrachte ihre Nächte weiterhin im Bezirksspital, wo sie inzwischen als Hilfspflegerin arbeitete. Auch wenn die Braut schwanger war, «geziemte» sich das Zusammenleben Unverheirateter groteskerweise nicht. Rös und Waldemar hielten sich daran, keine Ahnung warum, nach allem!
Sie heirateten ohne Kirche, nur im Stadthaus. Es war ein trüber Tag, und so ähnlich schaute auch das Hochzeitspaar in die Welt. Seine Schwester Yvonne und ich spielten Trauzeugen. Danach gab es ein bescheidenes Mittagessen. Waldemar sprach davon, in der Stadt eine Arbeit zu suchen und im Walzwerk zu kündigen. Wir vermieden es, über unsere Eltern zu sprechen. Yvonne hatte sehr viel dazu beigetragen, dass wir während des Essens in immer bessere Stimmung kamen. Bisher hatte ich sie kaum beachtet, aber ich fühlte, dass sie den beiden etwas Unglücklichen gut tat.
Am Tag danach reisten sie für eine Woche ins Tessin. In jener Woche verlor meine Schwester ihr Kind. Dieser Verlust verstörte das Paar nachhaltig. Plötzlich schienen sie nicht mehr zu wissen, warum sie einander geheiratet hatten, und doch mochten beide das gemeinsame Projekt nicht aufgeben. Scheidungen waren noch immer verpönt, ein klares Zeugnis und Eingeständnis des Versagens unverantwortlicher Leute. Um keinen Preis wären sie bereit gewesen, davon bin ich überzeugt, ihren Vätern die Freude des Scheiterns zu machen. Meines Erachtens suchten sie nach einer starken Klammer für ihr Zusammenbleiben, und da entstand die Idee, nach Amerika auszuwandern.
Noch hatte Waldemar im Walzwerk nicht gekündigt und keine andere Stelle angenommen. Für ihr Projekt suchte er Hilfe bei Alice Fürst, der einstigen Amerikanerin, der Mutter seines toten Freundes Gerard. Sie freute sich, den beiden helfen zu können. Durch ihre Vermittlung fanden sie vorerst eine Stelle als Hausangestellte bei reichen Leuten in Massachusetts, in der Nähe von Boston.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Mir selbst kam ihr Auszug gelegen. Ich wohnte noch immer im gemieteten Zimmer und war glücklich, die kleine Wohnung mit dem recht einfachen Inhalt zu übernehmen. Nachdem sie weggefahren waren, hörte ich von den beiden nur noch wenig, allenfalls durch Bärbel, und auch dies nur ganz selten. Im Lauf der Zeit hatte ich sie vergessen, wenigstens für Monate, wenn nicht gar Jahre.
Dann plötzlich, nach etwas über 15 Jahren, waren sie wieder da, zurück aus Amerika, kinder- und arbeitslos. Die Rös bat mich um Hilfe, um etwas Geld, für den Anfang. Ich gab ihnen, nicht sehr viel, aber immerhin. Sie waren offenbar ausgebrannt, und zu Norbert wäre die Rös nie betteln gegangen, sowenig wie Waldemar seinen Vater anpumpen wollte. Waldemar hielt sich an seine Schwester Yvonne. Sie hatte offenbar eine beträchtliche Karriere gemacht und arbeitete als «Vorzimmerdame» eines Direktors in der Stadt.
Yvonne schien Waldemar mächtig geholfen zu haben – und später hat sie sich um meine Schwester in einer Weise gekümmert, wie ich es nie geschafft hätte.
Einstweilen fand die Rös Arbeit im Spital, und Waldemar wollte sich als freier Fotograf installieren. Ich war von Anfang an skeptisch, ob er sich als selbständiger Fotograf würde etablieren können. Doch Waldemar schien gewitzter, als ich ihm zutraute, und schaffte mindestens einen halbwegs erfolgreichen Start.
In einem Nachbardorf fanden sie bei einem Bauern eine ältere, sehr einfache, aber hinsichtlich Grösse und Preis ideale Wohnung. In einem grossen angebauten und heizbaren Schuppen konnte er ein Studio einrichten. Er brauchte dazu mehr Geld und pumpte mich an. Irgendwie konnte ich nicht nein sagen, und so habe ich ihm die ganze Ausrüstung vorgeschossen.
Eine Weile schien alles gut zu gehen. Anfänglich luden mich die beiden ab und zu ein. Ich lebte damals allein in der Stadt und fand die Sonntagbesuche bei Schwester und Schwager nett. Doch die Einladungen blieben mehr und mehr aus. Zuletzt musste ein Jahr oder mehr vergangen sein, seit ich meiner Schwester und meinem Freund Waldemar zum letzten Mal begegnet war.
Am Sonntag nach Ostern – es war der Weisse Sonntag 1983 – rief er mich am Morgen an. Ja, sie hätten schon seit einer Weile nichts mehr von sich hören lassen. Er, Waldemar, hätte halt viel zu tun, und immer wieder sei etwas dazwischen gekommen, wich er aus. Aber heute würde er gerne mit mir einen Ausflug machen. Mit der Rös käme er nicht dazu, und heute sei sie nicht da, sie müsse arbeiten. Rös ertrage lange Fussmärsche ohnehin schlecht. Er würde gerne mit mir am See entlangwandern, aber hätte bisher kaum eine Gelegenheit gesehen, mich dazu einzuladen. Ich fühlte mich etwas überrumpelt, aber ich sagte zu.
Noch vor der Mittagszeit trafen wir uns auf dem Parkplatz beim Schloss. Der Frühling war voll ausgebrochen. Waldemar schien guter Laune und bedankte sich überschwänglich für mein Kommen. Er hatte seine Kamera mit allen möglichen Schikanen mitgebracht und versprach sich ein paar schöne Bilder vom sonnigen Tag.
Ganz plötzlich freute mich die Idee der Wanderung. Ich hätte mich allein dazu nicht aufgerafft, und wir nahmen uns vor, den See zu umrunden, auf halbem Weg einzukehren, etwas zu essen und am frühen Abend zurück zu sein. Waldemar freute sich, viel Zeit zu haben. Wir hatten uns in den letzten Jahren nie ohne Rös getroffen.
Anfänglich sprachen wir über seine Arbeit. Kunden und vor allem Aufträge für Werbeaufnahmen seien immer zahlreicher geworden. Letztere warfen bedeutend mehr ab als Bilder für Zeitungen, Agenturen und Bücher oder gar Hochzeiten. Allerdings verursachten sie auch bedeutend mehr Aufwand für Planung und Vorbereitung, bedingten eine kostspielige Ausrüstung und verlangten zum Teil endlose Diskussionen mit den Auftraggebern über Inhalte und Qualität. Aber im Ganzen gesehen gab sich Waldemar zuversichtlich. Er mochte noch keine Versprechen für eine Rückzahlung seiner Schulden machen, aber er komme der Sache bestimmt näher. Alles hänge auch davon ab, wie er und Rös in Zukunft zusammen leben könnten.
Wie er das meine, fragte ich ihn etwas überrascht. Und jetzt begann er nach und nach seine traurige Geschichte zu erzählen. Ich will versuchen, sie möglichst in seinen Worten wiederzugeben, obwohl ihm das Reden nicht ganz leicht zu fallen schien und er immer wieder weit ausholte:
«Rös und ich verbringen im Moment eine schwierige Zeit, und ich habe ehrlicherweise keine Ahnung, wie wir unsere gemeinsame Zukunft bewältigen können oder wollen. In Wirklichkeit leben wir schon jetzt nicht mehr zusammen. Sie verbringt ihre Freizeit fast ausnahmslos mit unserem Nachbarn und Hausbesitzer Res. Sie hilft ihm in ihrer Freizeit auf dem Hof, macht den Haushalt und seit einiger Zeit schläft sie mit ihm.»
«Einfach so, warum lässt du dir das gefallen?»
«Das ist eine lange Geschichte. Du weisst, wir haben keine Kinder, und Rös sieht und sah die Schuld schon immer bei mir. Vielleicht trifft es auch zu. Wir haben uns nie dazu aufgerafft, Klarheit zu schaffen. Vielleicht hätte Klarheit die Gratwanderung unseres gemeinsamen Lebens gefährdet. In Amerika waren wir aufeinander angewiesen, wenigstens haben wir uns dies gegenseitig immer eingeredet.»
«Aber als ihr geheiratet habt, war doch die Rös schwanger?»
«Schon, aber vermutlich nicht von mir. Wenigstens hat sie mir dies, als wir schon lange drüben lebten, immer wieder, meistens im Streit, höhnisch an den Kopf geworfen. Auch darüber gab es nie letzte Gewissheit. Das hat sie im Nachhinein immer wieder beteuert. Als sie das Kind verlor, war ich von meiner Vaterschaft überzeugt gewesen. Ich wusste nicht, dass es da noch einen anderen Mann gab oder geben konnte. Ich hatte mich auf das Kind eingestellt und eigentlich freute ich mich.»
«Wer war denn der andere?»
«Sie hat es mir nie gesagt. Vermutlich einer aus dem Dorf, ich verdächtigte Dölfs jüngeren Bruder, den Alex Pfister. Sie hat dies nie zugegeben. Immer, wenn es für sie eng wurde, hat sie gekniffen. Gescheit, sportlich und sexy sei er gewesen, eben kein unfähiger Schnellspritzer, wie sie mich hin und wieder beschimpfte. Ihr Schweigen half mir, ihre Geschichte als Erfindung oder gar Wunschtraum abzutun. Sie aber machte unsere seitherige Kinderlosigkeit zum Beweis. Dagegen verdächtigte ich sie, noch vor unserer Trauung, versucht zu haben, das Baby durch irgendwelche obskuren Gifte oder Machenschaften abzutreiben, letztlich gar erfolgreich, und sie habe dabei vermutlich ihre Gebärmutter oder andere Organe beschädigt oder zerstört. Zwar geschah es in den Flitterwochen, aber ich stellte mir den Abgang als langsamen Prozess vor. Solche Verdächtigungen erwiderte sie mit unbeschreiblichen Wutanfällen. In der Folge weigerten wir uns beide immer wieder, uns untersuchen zu lassen. Das Drama hat uns über 20 Jahre verfolgt, gedemütigt und doch irgendwie zusammengeschweisst.»
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