«Sie wird sich kaum etwas sagen lassen. Sie wird mich bei dir verhöhnen und sie wird weiter drohen, weil ich fürchte, ihr wirkliches Motiv ist eine Art Rache, die sie sich um keinen Preis entgehen lassen will. Irgendwie fühle ich mich auch wirklich schuldig. Vielleicht war ich in vielem, um nicht zu sagen, in allem, ein Kümmerling, nur ein kleiner Bock, der sich seine Lust selbst beschaffte, ohne mit Einsatz wirklich zu suchen und zu werben. Vielleicht habe ich die Rös einst genommen, weil sie mich wollte, weil sie mich brauchte, weil sie für mich bequem war. Wer also möchte es ihr übel nehmen, auszubrechen und sich mit Res ein bisschen Lebensfreude – ein Stück wirkliches Leben, wie sie es nennt – zu holen und mir die verlorenen Jahre anzukreiden, mich dafür anzuprangern.
Dabei glaubte ich einst, eine Frau mit gesundem Selbstverständnis und einem liebevollen warmen Herzen geheiratet zu haben. Erst allmählich – in Amerika – begannen ihre Wutausbrüche. Es war, als ob ein fremdes Wesen von ihr Besitz ergreifen würde. Sie hat mich erschreckt und entsetzt. Im besten Fall lief sie danach weg und kam später zurück mit Entschuldigungen und Schuldgefühlen. Erschöpft und weinend fielen wir uns jeweils in die Arme und hofften, alles würde sich zum Besseren wenden, da wir uns doch so dringend brauchten. Die Jahre kamen und gingen. Jede Phase haben wir noch und noch durchlebt.
Die Ausbrüche begannen meistens unvorhersehbar mit kleinsten Meinungsverschiedenheiten, eskalierten zu wilden Szenen und endeten in chaotischer Zerstörung von Geschirr und Möbeln. Sie schrie und schlug blindlings um sich, rannte mit dem Kopf gegen die Wand, warf sich zu Boden, um letztlich in einer Art von hilflosem Weinen aufzugeben. Es gelang mir kaum, sie vor sich selbst zu schützen. Sie wurde für mich urplötzlich zu einem fremden Wesen, einem Wesen, das einer fremden Macht folgte Immer, wenn es mir danach gelang, zu diesen grässlichen Szenen Abstand zu gewinnen, entsetzte mich die Energie, mit der Rös ihren ‹Kampf› betrieb. Im Zustand der Aggression war sie sich fremd oder mindestens fehlgeleitet.
Irgendeinmal wusste ich, dass dies alles vermutlich nur wenig mit mir zu tun hatte. Sie richteten sich in Wirklichkeit gegen ein Phantom, das ich nicht kannte. Ich begann auf Symptome und Abläufe zu achten und wusste auf einmal, dass die Rös mich mit ihrem, mit deinem Vater verwechselte.»
Nach kurzer Pause, in der er mich nur stumm ansah, fuhr Waldemar mit leiser Stimme fort, und diesmal liess ich ihn ausholen:
«Damals, als wir auswanderten, hat Rös von Norbert erzählt, von seinem Schweigen, von der bedrückenden Stimmung, die er verbreitete, seinen Ansprüchen, seiner Art, wie er eure Mutter beleidigte, seine Schimpftiraden auf die Leute in der Fabrik, seine Wutanfälle auf Politiker und Autoritäten, wobei er offenbar nie handgreiflich, nie wirklich grob wurde, einfach lärmte oder schmollte.
Dann kam eine Phase, in der Rös von ihm geradezu schwärmte, wie er sich pflegte und wie eitel er sein konnte, auf sein Äusseres achtete, sich wie ein Gentleman benehmen und auch reden konnte, weit über dem Niveau, in dem er eigentlich lebte. Von daher kam seine Bitterkeit, weil er sich zu Besserem als Chauffeur oder Vorarbeiter berufen fühlte, und darum ihre oft unvermittelte, absurde Anhänglichkeit, weil sie sozusagen mit ihm gemeinsam über die groben Herabsetzungen in seinem erbärmlichen Leben trauerte. So lernte ich ihr Verhältnis zu Norbert kennen. Meine Sicht wollte bisher niemand teilen, ich verstehe zu wenig davon, so blieb bisher alles an mir hängen …
In unserem ersten Jahr in Amerika litt Rös an starkem Heimweh. Sie hörte die Stimme der verstorbenen armen Schwester und wollte zu ihr zurückkehren, ihr Grab besuchen. Sie glaubte, du, ihr Bruder, spiele im Nebenzimmer Trompete. Sie öffnete die Tür, um nachzusehen, so echt waren ihre Halluzinationen. Dann wieder sehnte sie sich nach eurem Vater. Ich erinnerte sie daran, wie ihr die Mutter geholfen hatte, von zu Hause wegzukommen, um Rös von ihrem Vater zu trennen, sie vor ihm zu schützen, und wie ihr Vater Rös mit Schweigen für nichts bestrafte, für nichts, weil er ihr nie sagte, welche Vorwürfe er ihr insgeheim machte. Dabei hatte er sie ab und zu nachts besucht, die Decke weggezogen und sie betrachtet, ihre noch kindlichen Brüste betastet und gestreichelt, während sie sich schlafend stellte. An mehr konnte sie sich nicht erinnern.
Sie kämpfte gegen ihren Vater, weil er die Familie terrorisierte und schon immer terrorisiert hatte. Weil die Mutter, kurz nach dem Umzug in die neue Wohnung, Rös und dich in die Küche eingeschlossen und danach den Gashahn aufdreht hatte. Rös kämpfte nicht erst in Amerika um ihre innere Freiheit, um die Loslösung von der väterlichen Klammer, auf Leben und Tod. Ihr Vater aber hielt euch alle in der Zange und stach immer dort zu, wo ihr am leichtesten zu verletzen wart. Er stach zu wie die Skorpione in seinem Terrarium. Er war für euch und ganz besonders für die Rös ein Skorpion. Und immer, wenn er zustach, entfachte er in Rös das Entsetzen einer gequälten Kreatur, da wurde sie zur Furie, auch in ihrem späteren Leben. Er wütete weiter in ihrer Seele, auch als sie ihn meinetwegen verlassen hatte, und er stach zu, jetzt vielleicht erst recht, weil sie mit mir zusammenlebte.
Mehr und mehr war ich überzeugt, dass die Rös zwar ihren Vater verliess und mich heiratete, aber seine Gefangene blieb. Ihr verinnerlichter Mann war der Mann der gefährlich stechenden Skorpione, der Herr über Leben und Tod. Ihr Vater war zum Wesen Mann und als solcher selbst zum grausamen Skorpion geworden. Wann immer sie sich in seiner Schuld fühlt, oder sich gegen ihn durchsetzen will, sticht er zu. Er behält seine Beute in der Zange und sticht und sticht, noch und für immer. Die Stiche aber lastet sie mir, ihrem zum Vater gewordenen Mann, an.
Jeder neue Mann, den sie sich nahm oder nimmt, erscheint ihr als Flucht und Rettung vor ihrem Vater. Jeder Mann wurde nach der ersten, oft überschwänglichen und überbordenden Verliebtheit zu ihrem Vater. Und als sie mir vor zwei Jahren erzählte, sie fühle die gleiche unerträgliche Spannung, wenn du, ihr Bruder, uns besuchen kommst, die sie früher fühlte, wenn euer Vater nach Hause kam – da wusste ich, dass sie auch in dir ein Bild ihres Vaters verinnerlicht hat und damit Angst und Aggressionen verbindet. Jetzt weisst du auch, warum wir dich in den letzten beiden Jahren kaum noch eingeladen haben. Sie kämpft noch immer gegen ihren Vater. Er hält sie nach wie vor in der Zange und sticht zu, wo sie am leichtesten zu verletzen ist, unvermittelt hervorbrechend, rasend, seitlich rennend, unberechenbar.
Die Stiche müssen entsetzlich schmerzhaft sein, und das Gift versetzt ihre Seele in Aufruhr. Der Schmerz führt entweder zum offenen Kampf gegen den Mann, wer immer das ist, zum Krieg gegen sich selbst oder zur Suche nach Linderung im Rausch oder Schlaf. Der längste Schlaf aber ist der Tod. Dieser mögliche Tod war für mich mehr als Entsetzen. Nie sollte sie in meinen Armen an den Stichen des unsichtbaren Mörders sterben. Niemand hätte den Mörder gesucht, niemand hätte ihn gefunden und niemand hätte mir geglaubt. Niemand aber vermochte es, meine Frau der Zange des Skorpions zu entreissen, den Skorpion zu töten. Rös hat sich bisher jeder Therapie entzogen, wenn diese ihr fundamentale Einsichten abverlangte.
Später entwickelte Rös eine unglaubliche Eifersucht. Vor allem, als ich mit meiner Arbeit etwas besser vorankam, kleine Erfolge hatte, Werbeaufträge fotografieren konnte und dabei Frauen oder hin und wieder gar Models auftraten. Hinter allem witterte sie wüste Szenen. Sie sah mich als geilen Grabscher, der sich die Mädchen vornahm, um zu onanieren. Einen richtigen Fick traute sie mir nicht zu, höhnte sie hin und wieder.
All diese Vermutungen waren barer Unsinn. Ich habe sie nie betrogen, ging nie in den Puff und glaubte trotz aller Schmach durch alle Jahre, im Grunde genommen ein gutes und liebenswertes Mädchen geheiratet zu haben, das mich mit ihrem Vater verwechselte und mich daher bekämpfte. Zwanghaft mit seinem eigenen Vater verheiratet zu sein, muss zu krankhaft grausamen Konflikten führen. Der vermeintliche Inzest verstösst vermutlich im Unterbewusstsein gegen jedes natürliche Schamgefühl und schreit nach Revolte.
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