Ich habe ja auch einen schwierigen Vater gehabt, der mich schikaniert und wegen Kleinigkeiten verhöhnt oder gar geschlagen hat. Wenn er wütend war, hat er auch meine Mutter geschlagen – gesehen habe ich es nie, es geschah immer nachts, ich habe ihn gehört, wenn er sie beschimpfte, sie gab auch zurück und ich wusste es immer, wenn die Schläge die Worte ersetzten. Und am Morgen sah ich es ihr an. Sie hat darüber nie gesprochen. Erstaunlicherweise schlug er weder Yvonne noch meine jüngeren Brüder. Ich wusste, dass ich das nie tun würde, und ich habe es nie getan. Manchmal glaube ich, die Rös wartete darauf – das hätte das Spiel erweitert, es noch tödlicher gemacht. Wir haben auch darüber gesprochen, sie sagt, dein Vater habe weder sie noch ihre Mutter geschlagen. Seine Gewalt war eine andere.
Es gab Zeiten, in denen sich Rös vor sich selbst fürchtete. Ein Arzt im Spital, in dem sie arbeitete, schickte sie zum Psychiater. Nach einer Weile schlug der Therapeut vor, mich an den Gesprächen zu beteiligen. Mit heute eher naiv erscheinendem Wohlwollen stellte ich mich selbstverständlich zur Verfügung und war dann sehr betreten, als ich mich mit dem angeblich eigentlichen Problem unserer Beziehung, meinem sexuellen Unvermögen, konfrontiert sah. Dies sei ein Problemkern von grösster Sprengkraft, der dringend gelöst werden müsse. Ich kannte den Sachverhalt, aber ich war vielleicht aus Ignoranz oder Überheblichkeit nicht auf die Virulenz und Tiefe des Anliegens vorbereitet und stellte die Diagnose in Frage. Als ich meine Sicht der Geschichte erzählte, stiess ich bei dem Therapeuten wie bei Rös auf kalte Ablehnung.
Rös beklagte sich, dass sie mit mir noch nie einen wirklichen Orgasmus erleben konnte. Sie gab zwar zu, dass unsere Sexspiele ihr oft gefallen hätten, aber sie war ihrer überdrüssig geworden. Während einiger Zeit versuchten wir im Gespräch eine Lösung zu finden. Ohne Ergebnis. Rös drängte mich, die Therapie abzubrechen. Ab jetzt wollte Rös mit mir nicht mehr schlafen – auf Zeit, wie sie meinte, vielleicht würde sich nach einer Auszeit alles zum Guten wenden.
Nach Monaten sah ich mich in einer unüberwindlichen Falle. Der Weg zu einer eventuellen Heilung war versperrt, und Rös’ Eifersucht verbot mir ohnehin jeden Versuch, auszubrechen. Und zudem hatten wir kein Geld. Wir lebten noch immer, mindestens zum Teil, von Rös’ Einkommen.
Es gab Zeiten, da sah Rös unser Dilemma ganz realistisch. Letztlich entschlossen wir uns, in die Schweiz zurückzukehren und ganz neu zu beginnen.
Und da waren wir nun. Alles wurde schwieriger als je zuvor. Nichts war, wie wir es uns vorgestellt hatten. Wir haben drüben alles, was sich verkaufen liess, verkauft, weil uns der Transport von Möbeln und Hausrat zu teuer schien. Wir reisten mit unserem für den Flug zugelassenen Gepäck und glaubten, unser Bargeld würde uns reichen, uns hier einzurichten und ein paar Monate zu leben. Aber schon eine Wohnung zu einem bezahlbaren Preis zu finden, war schwierig. Was wir an Möbeln brauchten, kauften wir im Brockenhaus. Das war gar nicht so schlecht. Trotzdem schmolz unsere Barschaft wie Schnee an der Frühlingssonne. Zwar fand Rös schnell, jedoch nur als Aushilfe und nur stundenweise Arbeit im Spital. Meinerseits fand ich als Fotograf keine Arbeit, ohne Lehrausweis schon gar nicht. Aber auch als Werkzeugmacher hatte ich keine Chance. Die Konjunktur lahmte. Also verlegte ich mich wieder auf die selbständige Fotografie, und dazu brauchte ich ein Studio und vor allem eine brauchbare Ausrüstung. Eine Kollegin von Rös erzählte von der Wohnung auf dem Land, beim Res. Den Rest weisst du. Du hast mir Geld geliehen, und ich begann Kunden zu suchen, was weit schwieriger war, als ich es mir vorgestellt hatte. Meine Schwester Yvonne verschaffte mir die ersten nennenswerten Aufträge. Es war so etwas wie der Silberstreifen am Horizont.
In der Freizeit begann die Rös, dem Res in Haus und Feld zu helfen. Es täte ihr gut, vor allem die Arbeit an der frischen Luft, sagte sie. Für eine Weile hatten auch wir beide es wieder gut. Nachts umarmten wir uns und hofften auf eine bessere Zukunft. Ich selbst hatte mit Res wenig Kontakt. Rös glaubte, dass ich ihn zu wenig kenne. Sie wollte ihn zu einem gemeinsamen Essen einladen. Ich sah keinen Grund dagegen. Er kam und brachte zwei Flaschen Wein vom Seeberg. Rös machte ein amerikanisches Essen mit T-Bone-Steak, Mais und gebackenen Zwiebelringen. Wir erzählten Res von unserem Leben in Amerika und wie gut es uns hier auf dem Hof gefiel.
Nach dem Essen sahen wir im Fernsehen Marlon Brandos Film ‹Der letzte Tango›, der in vielen Staaten Amerikas seiner angeblich obszönen Szenen wegen verboten war und den wir nur seinem Titel und seinem Ruf nach kannten. Wir sassen auf dem Sofa, Rös in der Mitte, und tranken Whisky. Sie lehnte sich an mich, küsste mich hin und wieder an Hals und Wange, legte ihre Hand auf meine Schenkel. Diese deutliche Art von Einladung hatte es in den vergangenen Jahren selten gegeben. Plötzlich legte sie beide Arme um mich und küsste mich lang und herausfordernd auf den Mund. Ich schob meine Hand unter ihren Jupe und erlag meinem aufgestauten Drang nach Sex. Sie öffnete die Schenkel und liess mich weiterfühlen. Dann wandte sie sich plötzlich Res zu und fragte, ob es ihn nicht störe, wenn wir uns derart beschmusten. Er lachte ziemlich aufgekratzt, er fände es nur schade, davon nichts zu bekommen. Da drehte sie sich zu ihm und küsste ihn mit dem gleichen Ungestüm wie mich zuvor. Ich liess sie gewähren und liess auch meine Hand, wo sie war, im Gegenteil, ich erfühlte ihr heisses Geschlecht, die scharfe Nässe. Alle drei waren wir schon ziemlich betrunken, aber das ist bloss Ausrede. Res verliess uns gegen Morgen nach einer für mich bisher unvorstellbar ausschweifenden Nacht.
Spätestens seither ist Res ihr Freund. Anfänglich sah das nicht eindeutig so aus. Während Tagen und Wochen geilten Rös und ich uns an der gemeinsamen Erinnerung auf und vergnügten uns wie kaum je zuvor, aber wir haben uns nie mehr zu dritt ins Bett gelegt, und sie hat nie diesen Wunsch aufgebracht. Ich ahnte, dass sie mit uns beiden spielte, doch letztlich war ich der Verlierer. In jener Nacht habe ich den letzten Rest meiner Würde verloren. Für Rös war dies meine endgültige Kapitulation vor ihren Wünschen. Drei Jahre sind seither vergangen. Jetzt bin ich am Ende.»
Ich hatte Waldemar nicht mehr unterbrochen, obwohl mich vieles verwirrte und anderes gar verletzte. Immerhin fühlte ich, dass Waldemar aus einer echten, wenn auch vielleicht dümmlichen Not heraus sprach.
«Die Rös betrügt dich also mit Res, nicht zuletzt durch dein ziemlich eindeutiges Mittun, und du bist auch danach nie entschieden dagegen eingetreten, also bist du jetzt Teil des Spiels, und das hält sie dir vor. Du suchst Hilfe, willst aber nicht, dass ich mit ihr rede, was also soll ich tun?»
«Ich bitte dich, ihr zu helfen, wenn ich gegangen bin, und jetzt, da du unsere Geschichte und meine Gründe kennst, wirst du mich verstehen, und das erleichtert meinen Schritt.»
«Eigentlich machst du es dir ziemlich leicht. Alle Fehler scheinen bei Rös oder gar meinem Vater zu liegen. Was du oder eben auch Rös ihm da unterschiebst, ist alles andere als harmlos, und nun soll ich dich gar entschuldigen oder zumindest verstehen?»
«Ich weiss, dass ich Teil des Spiels bin, aber ich weiss auch, dass ich es unterbrechen muss. Rös und ich stehen in der Mitte des Lebens, und wenn ich an eine Fortsetzung denke, graut mir vor uns und unserer Zukunft. Ich suche für sie und mich einen erträglichen Weg. Jeder andere, den ich bisher erdachte, wäre schwieriger für alle, glaub mir.»
«Waldemar, für das, was du mir erzählt hast, hätte ich dich vor zweihundert Jahren zur Rettung der Ehre meiner Schwester und meiner Familie totschiessen müssen. Ich weiss nicht, wie weit Freundschaft gehen kann oder muss, aber du hast unsere Freundschaft von einst an einen Abgrund geführt.»
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