(Ich, Anna, sehe Judith mit wehendem roten Rock durch die Tür der Halle verschwinden. Ich sehe Anni und Bernhard wiederum das Podest besteigen, auf dem Plotzners Patentmöbel stehen. Sie werden, indem sie diese anpreisen, mithelfen, eine Epoche zu prägen. Die Verhältnisse werden sich bessern, aber die Architekten werden auf ihren Reißbrettern weiterhin kleinräumige Wohnungen entwerfen, das kleine Glück wird in kleine Räume gedrängt bleiben, auch dann noch, wenn keine Patentbetten mehr nötig sind. Manches wird überflüssig werden, weil es in den zu kleinen Zimmern keinen Platz mehr dafür geben wird, zum Beispiel Klaviere. Die Kinder werden nicht mehr Klavier spielen lernen wie Anni, wie Heinrich, wie auch Valerie, sie werden auf Knöpfe drücken, Knöpfe erfordern nur wenig Platz. Die Knopffabriken werden erweitern, in großen Hallen werden kleine Knöpfe erzeugt werden, die Knöpfe werden an kleinen Apparaten angebracht werden, die Apparate werden in den kleinen Wohnzimmern die Klaviere ersetzen. Die Zeit wird anbrechen, in der man Klaviere nachts heimlich von den Brücken in die Donau kippt, weil niemand sie mehr braucht und niemand sie mehr haben will, vielleicht auch in andere Flüsse von einiger Breite und Tiefe, Architektur und Technik werden den heimlichen Tod der Klaviere verursacht haben, das Ertrinken der Klaviere, das Verstummen der Klaviere. Niemand wird mehr Klavierauszüge von Opern oder Operetten auf Notenpulte legen und daraus Opern- oder Operettenmusik spielen.
Anni vor dem schwarzen Flügel, auf dem in Goldbuchstaben HANSMANN geschrieben steht, Valerie vor dem braunen Flügel im Bauernhaus ihrer Eltern in B., Heinrich vor dem Flügel in Mährisch Trübau, Friederike vor dem Flügel in Sankt Ägyd, Kinder, die Musik durch Klavierspiel erzeugen, nur der Musik zuliebe, dies alles wird Vergangenheit sein.
Heinrich ging, im Ersten Weltkrieg in Polen, auf ein fremdes Klavier zu, das in einem polnischen Herrenhaus stand, er spielte Musik von Lehár und Strauß. Klaviermusik, spontan auf fremden Klavieren gespielt, wird es kaum noch geben, was bleiben wird, werden die Kriege sein. Der Tod der Klaviere, das Verschwinden der Klaviere wird nicht dazu beitragen, die Welt friedlicher werden zu lassen, die Knöpfe werden eine furchtbare Bedeutung erlangen. Dies aber sind Entwicklungen, die Plotzners Patentbett nicht direkt verursacht hat.)
Der fünfte Winter nach dem Ende des Krieges war kalt. Eine böse Zeit für jene, die noch in Notunterkünften saßen, keine warme Kleidung, keine festen Schuhe hatten, kaum Brennmaterial und die nötigsten Lebensmittel kaufen konnten. Zwei Jahre nach der Währungsreform war im Westen Deutschlands die Rationalisierung der Lebensmittel zum großen Teil aufgehoben worden, trotzdem spürte man den Mangel überall, denn es fehlte an Arbeitsplätzen und damit auch an Geld. Ein Ei kostete achtzehn Pfennig, die Butter konnte man um zwei Mark fünfzig für das halbe Kilo kaufen, ein Kilo Brot kostete eine Mark. Hedwig hatte mit hundertvierzig Mark im Monat für die Familie auszukommen. Sie war eine der 469.000 Kriegerwitwen, die zu versorgen waren.
Obwohl man den Flüchtlingen und Vertriebenen in Deutschland Renten und Unterstützung gewährte, konnten diese, bei den herrschenden Verhältnissen, nur niedrig sein. Auch die Arbeitslosigkeit war im Steigen begriffen. Im deutschen Bundesgebiet erreichte die Zahl der Menschen, die ohne Beschäftigung waren, die Zweimillionengrenze, in Nürnberg allein waren 13.180 Arbeitslose gezählt worden, die Schlangen vor den Arbeitsämtern wurden von Tag zu Tag länger. Von den Unternehmern wurden nur voll einsatzfähige Arbeitskräfte beschäftigt, Angestellte, die auf Grund ihres schlechten Gesundheitszustandes den Anforderungen nicht entsprechen konnten, wurden in den meisten Fällen entlassen. Ständig kamen neue Arbeitsuchende hinzu, Heimkehrer, illegale Grenzgänger, auf verschiedenen Wegen Zugezogene. Die allgemeine Not war groß, beinahe katastrophal. Trotzdem schrieb die New York Times, sich auf Berichte aus Frankfurt berufend, die Deutschen äßen jetzt besser, als sie je nach dem Krieg gegessen hätten, und sie hätten vor, IM NEUEN JAHR ZU GUT ZU LEBEN. Die Administratoren, hieß es, seien besorgt, daß die deutsche Bevölkerung sich AN EIN ZU UMFANGREICHES MENU GEWÖHNEN könnte und daß es eines Tages zu neuerlichen Einschränkungen kommen würde, etwa dann, wenn die mögliche Einstellung der amerikanischen Hilfe mit einer schlechten Ernte zusammenfiele. Dies würde dann EINE RÜCKKEHR ZUM MAGEREN TISCH bedeuten.
(Hier ist daran zu erinnern, daß Annis Großeltern, Josef und Anna, mit ihrer Tochter Hedwig und deren beiden Kindern Heidi und Günter nach ihrer Vertreibung von Haus und Hof und einer Zwischenstation im nördlichen Niederösterreich in ein sehr kleines Dorf bei Erlangen gebracht wurden, wo sie in einem Häuschen zwei Dachkammern bewohnten. Heidi und Günter erklären, daß der Tisch der Familie in jenen Jahren mehr als mager gedeckt gewesen sei. Sie waren zu diesem Zeitpunkt, von dem hier die Rede ist, sieben und zehn Jahre alt und können sich nicht daran erinnern, damals GUT UND REICHLICH gegessen zu haben.
Präsente, die man den Großen machte, spiegeln die Lage der Zeit deutlicher als der zitierte Zeitungsbericht. Zum vierundsiebzigsten Geburtstag des Bundeskanzlers Adenauer stellten sich die Länder mit Lebensmittelgeschenken ein. Bayern soll sechs Hühnereier, Schleswig-Holstein ein halbes Pfund Butter gespendet haben.)
Der Winter also war kalt, und die Familie fror, obwohl Großvater Josef Holz aus dem Wald heranbrachte und der kleine eiserne Ofen, der in einer der beiden Kammern stand, geheizt werden konnte. Die Wände blieben kalt, und durch die Fugen der klapprigen Fenster pfiff ein eisiger Wind.
Großmutter Anna war schon mehrmals schwer krank gewesen, sie war über siebzig Jahre alt und geschwächt. Hedwig hatte die Sorge um die tägliche Nahrung für die fünfköpfige Familie und zu ihrem Kummer um den in Rußland verschollenen Mann Richard auch noch jene um die kranke Mutter zu tragen.
Die Schwägerin in Wien versuchte zu helfen, sie stellte ein Weihnachtspaket zusammen und gab es einer Frau mit, die zu Verwandten nach Nürnberg fuhr. Irgendwann um die Weihnachtszeit kam dann der von der Zensurstelle geöffnete und wieder verklebte Brief, in dem Hedwig mitgeteilt wurde, daß das Paket unter einer genannten Adresse in Nürnberg zu holen sei.
Hedwig war bis zu diesem Zeitpunkt noch nie in der nahen Stadt Nürnberg gewesen, die Gelegenheit hatte sich nicht ergeben, jetzt mußte sie diese Fahrt unternehmen, obwohl die Mutter wieder erkrankt war und sie dringend gebraucht hätte. Das Paket und sein Inhalt waren wichtig, und sie entschloß sich zur Reise.
Sie zog den Mantel an, den eine befreundete Frau ihr aus einem alten Männerrock und einer Jacke genäht hatte. Nein, einen richtigen Mantel habe sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht gehabt.
(Wenig später wurde in Nürnberg ein Winterschlußverkauf eröffnet, in den zwischen den Ruinen errichteten Behelfsläden gab es Damenwintermäntel aus umgearbeiteter US-Ware, BESTE, STRAPAZIERFÄHIGE QUALITÄT, mit Webpelzfutter, sie kosteten fünfundzwanzig bis dreißig Mark.
Das hätte mir auch nichts genützt, auch wenn ich es gewußt hätte, sagt Hedwig. Soviel Geld habe ich für mich nicht ausgeben können, soviel Geld habe ich gar nicht gehabt.
Arbeitsjacken aus Wolle kosteten drei Mark fünfundsechzig, Gummiüberschuhe drei Mark fünfzehn bis vier Mark fünfzig. Die Ware war liegengeblieben, die Leute hatten sie nicht gekauft. Überall machte sich Geldnot bemerkbar.
Mit der Währungsreform, heißt es allgemein, habe der Konsum begonnen. Die Leute hätten die Geschäfte gestürmt und gekauft, was kaufbar gewesen sei.
Das ist ein Märchen, sagt Hedwig, davon sind nur sehr wenige betroffen gewesen. Die meisten Leute sind vor den Geschäften gestanden und haben in die Auslagen geschaut und die Sachen bestaunt, die es schon wieder gegeben hat. Wirklich kaufen konnten die wenigsten. Alles spricht von dem Aufschwung, sagt ein Geschäftsmann, der Ende der fünfziger Jahre nach Amerika ausgewandert ist, niemand spricht von der FLAUTE nach der Währungsreform.
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