„Ach, Ed.“ Ich zog sie in meine Arme, vergrub meine Nase in ihrem Haar. „Du bist diejenige, die immer da ist, wenn ich sie brauche. Du warst schon damals für mich da, als du mich auf der Straße aufgelesen und bei dir aufgenommen hast. Ab diesem Zeitpunkt warst du eigentlich die beste Freundin, die ich je hatte.“ Ich streichelte ihr übers Haar. „Du bist was ganz Besonderes, Edda, hat dir das schon mal jemand gesagt?“
„Ja, Waldoff, das höre ich ständig ...“
Sie schluchzte trocken auf und ich gratulierte mir im Stillen: „Toll, Waldoff, jetzt hast du auch noch deine beste Freundin zum Weinen gebracht. Glückwunsch, du Pfeife!“
Sie löste sich von mir, wischte sich über die Augen. Sie schien gerührt zu sein. Ihr Blick war liebevoll. „Du solltest mit Marvin reden, Chris. Vielleicht ist noch was zu retten, je früher du ihn suchst, desto besser.“
„Du hast recht.“ Ich nickte, blinzelte die Tränen weg und stand wankend auf. Zögernd sah ich sie an. „Kommst du mit mir? Damit mich nicht wieder irgendjemand zusammenschlägt?“
Sie lächelte schief. „Sicher.“ Sie hakte sich bei mir unter und zusammen stellten wir uns der aufgebrachten Hochzeitsgesellschaft.
Es schien so, als hätte jeder mitbekommen, was auf dem Hotelzimmer passiert war. Ich spürte stechende Blicke im Rücken, ich prallte gegen Wände aus Abneigung, Argwohn und Zorn, die Leute tuschelten hinter vorgehaltener Hand oder äußerten sich lautstark ‒ und keineswegs positiv.
„Unglaublich, wie kann man nur so ein Arschloch sein?“
„Das arme Mädchen war völlig aufgelöst! Was meinst du, ob er sie im Zimmer überrumpelt hat?“
„Laura ist am Ende mit ihrer Kraft. Erst sprengt er fast die Trauung und kommt nicht und dann so was!“
„Keinen Funken Anstand im Leib! Wäre ich seine Mutter, ich würde mich in Grund und Boden schämen.“
Zum ersten Mal seit Langem war ich froh, dass Mama und ich keinen Kontakt hatten. Sie würde das nicht verstehen. Sie müsste sich wirklich für mich schämen.
Ich bekam pochende Kopfschmerzen, meine Augen brannten, meine Lippe schwoll merklich an und kribbelte unangenehm, mein Wangenknochen pulsierte. Ich bemühte mich nach Kräften, all diese Leute zu ignorieren, aber es fiel mir verdammt schwer. Mein Ansehen hatte einen kräftigen Dämpfer bekommen. Wenn Joachim das rausbekam, war ich geliefert. Aber erst mal zählte nur Marvin. Wo steckte er?
Kurz erhaschte ich einen Blick auf Pia, das Mädchen, das dank mir zur Vegetarierin geworden war. Ich lächelte ihr zu, doch sie funkelte mich nur böse an, Enttäuschung zeichnete ihr Gesicht. Dann drehte sie sich weg. Ich ließ den Kopf hängen und hoffte, dass sie trotz allem weiterhin Vegetarierin blieb.
„Schau, da drüben sind sie.“ Ich reckte den Hals und mein Herz setzte einen Schlag aus. Da standen sie alle. Marvin hielt Laura im Arm, deren Schultern bebten. Sie weinte immer noch. Lydia stand neben ihr, fuchtelte mit den Händen in der Luft herum und redete mit überschnappender Stimme auf Janas Vater und ihren Mann Holger ein. Auch Amanda, Layla, Sophia und Luke waren dabei und machten ernste Gesichter. Ich straffte die Schultern, als wir uns der Gruppe näherten. Lydia entdeckte uns zuerst und ihre Augen sprühten Funken. Sie schoss auf uns zu wie ein tollwütiger Hund. „Wage es ja nicht!“, schrie sie mich an. „Wage es ja nicht, meiner Tochter oder irgendjemandem aus meiner Familie jemals wieder zu nahe zu kommen! Ich kann es nicht fassen, diese Schmach ... Ist dir eigentlich klar, was du meiner Laura angetan hast? Und meiner Nichte Jana?“
„Erstens habe ich Jana gar nichts getan“, antwortete ich emotionslos, „alles, was zwischen uns passiert ist, war von ihr gewollt. Zweitens will ich mit Marvin reden, von Ihrer Sippe will ich nichts. Und drittens sollte Ihre Laura lieber mal darüber nachdenken, was sie anderen Leuten antut, wenn sie ihren Mund aufmacht und irgendeinen Scheiß verzapft.“
„Wie kannst du es wagen?“, kreischte Lydia und hob die Hand zum Schlag, doch Edda warf sich dazwischen und fing ihren Arm ab.
„Stopp!“, rief sie mit schneidender Stimme. „Gewalt ist keine Lösung. Nie! Außerdem hat Chris schon genug abbekommen. Ich finde, es reicht.“
„Es reicht, es reicht!“ Lydia war außer sich. „Dieser Kerl ist eine Schande, Mädchen, eine Schande! Herrgott, bist du denn so blind und naiv, dass du gar nicht siehst, was für ein schlechter Mensch er ist? Ein Schmalspurcasanova, immer nur darauf aus, seinen Spaß zu haben und den Mädchen den Kopf zu verdrehen. Dich hat er offenbar auch schon so weit, es ist nicht zu fassen.“
„Chris ist der beste Mensch, den ich kenne“, verteidigte Edda mich aufgebracht. „Okay, er hat einen Fehler gemacht, er ist manchmal ein bisschen hitzköpfig und macht dumme Sachen, aber das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, ihn pausenlos schlechtzumachen und ihm nur böse Absichten zu unterstellen. Im Übrigen, wenn Sie alle Jana und Chris mal die Chance gegeben hätten, sich zu erklären, hätten Sie längst mitbekommen, dass zwischen den beiden nichts lief. Sie haben nicht miteinander geschlafen.“
„Lügen!“, kreischte Lydia schrill. „Alles Lügen!“
„Ach, und Sie wissen das besser als die beiden selbst?“, fuhr Edda sie an. Nun wurde auch sie lauter.
Ich hielt sie zurück, ich musste das hier stoppen, bevor es ein Blutbad gab. „Ed, ist okay“, sagte ich sanft, „ich komm allein klar.“
Lydia wollte gerade etwas darauf erwidern, da tauchte Marvin auf und zog sie entschlossen zurück. „Lydia, ich regle das. Kümmere du dich um Laura. Chris?“ Er ging ohne ein weiteres Wort an mir vorbei und meine Aufgabe war es jetzt wohl, ihm zu folgen.
Ich entzog Edda sanft meinen Arm, sie nickte mir aufmunternd zu und murmelte: „Viel Glück.“
„Glück?“, schrie Lydia erbost. „Ein wenig Anstand bräuchte er dringender.“
„Ach, halten Sie doch endlich Ihren Mund!“, rief Edda wütend.
Ich wäre ihr gerne beigestanden, doch Marvin ging im Stechschritt auf den Brunnen zu und ich trabte hinter ihm her. Ich hoffte so sehr, dass wir vernünftig darüber reden konnten und er mir verzeihen würde. Er bog in einen der vier Wege ein und setzte sich schließlich auf die Bank, auf der ich Jana vorhin getroffen hatte. Schnell drängte ich die aufsteigenden Erinnerungen zurück, holte tief Luft und ließ mich neben ihm nieder.
Eine Weile starrten wir schweigend geradeaus auf einen Busch, dessen Blätter sich sacht im aufkommenden Wind wiegten. Ich befeuchtete meine Lippen mit der Zunge, versuchte, etwas zu sagen. Zwei Anläufe später war es mir immer noch nicht gelungen, ein Wort herauszubringen. Wenn ich so weitermachte, würde ich die Sache mit Marv nie mehr ins Lot bringen.
Als ich endlich die Zähne auseinanderbekam, ergriff mein Freund das Wort. „Ich weiß, was du sagen willst“, meinte er, ohne mich anzusehen. „Dass es dir leidtut. Dass du das nicht gewollt hast. Dass du nicht nachgedacht hast. Dass du nicht mit Jana geschlafen hast. Dass es eine Scheißidee war, die du sehr bereust.“
Ja. Ich schluckte. Genau das hatte ich sagen wollen.
Mit einem Mal hatte ich ein ganz ungutes Gefühl im Magen, mein Puls begann zu rasen und ich wurde panisch. Eine Katastrophe nahte heran, ich spürte es. Mein Körper zitterte und kribbelte.
„Fakt ist, Chris, dass du mit Jana ins Hotel gegangen bist, um mit ihr zu schlafen. Darauf hast du es angelegt. Es war kein Zimmer frei, also dachtest du dir: Hm, nehme ich eben die Hochzeitssuite. Brüder teilen schließlich alles. Oder?“ Er verzog das Gesicht. „So lautete doch der Kodex der Gang, in der wir damals waren ‒ beste Freunde sind wie Brüder. Und Brüder teilen alles.“ Er ballte die Hände zu Fäusten. „Wir sind nicht mehr in einer Gang, Chris. Wir sind erwachsen und es ist an der Zeit, dass wir uns so benehmen. Das alles hier, das ist kein Spiel.“ Er sah mich an und ich erschrak, als ich die Wut in seinen Augen sah. Da war kein Verständnis, keine Freundschaft, nichts. Nur Kälte. „Laura ist mein Leben, Chris. Ich liebe sie, mehr als alles andere auf der Welt. Sie ist meine neue Familie.“
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