Eindeutig ein Choleriker, meinem Vater nicht unähnlich.
„Papa, lass ihn los!“, schrie Jana weinend.
„Unglaublich, eine Unverschämtheit! So viel Dreistigkeit muss man erst mal besitzen“, kreischte Lydia, diese blöde alte Wachtel, in den höchsten Tönen. „Am Hochzeitstag meiner Laura! In der Hochzeitssuite! Wissen Sie, wie viel wir dafür hinblättern, für diese eine Nacht, Sie Mistkerl?“
Ich sah Laura, die schwer atmend und in Tränen aufgelöst an Marvins Brust lehnte. Ich sah meinen besten Freund, der mich mit unverhohlenem Abscheu ansah, nichts als Verachtung lag in seinem Blick.
Alle brüllten durcheinander, waren entsetzt über mein Verhalten und das verwüstete Zimmer. Janas Vater beschimpfte mich, dann sauste seine Faust auf mich nieder. Jana schrie auf, als der Schlag mich mit voller Wucht im Gesicht traf. Ich fiel nicht zu Boden, taumelte nur rückwärts. Ich schmeckte Blut. Der altbekannte Zorn flammte in mir auf, diese unbändige Wut, das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Ich wollte auf meinen Peiniger losgehen, der ebenfalls aussah, als wäre er auf eine Schlägerei aus, doch Marvin, Holger und einige andere Männer, die sich im Raum befanden, gingen sofort dazwischen.
„Beruhige dich, Lennart, komm runter!“, rief eine Frau mit hektischen roten Flecken im Gesicht, vermutlich Janas Mutter. Die Männer bugsierten ihn aus dem Zimmer, die Frau zerrte die weinende Jana hinter sich her. „Schatz, alles wird gut, wir reden darüber. Habt ihr verhütet? Hat er dich gezwungen? Hat er was gemacht, was du nicht wolltest? Gott, solange du nur nicht schwanger bist ...“
Sobald ihre Stimmen auf dem Gang verhallt waren, herrschte eisiges Schweigen. Die Männer ließen mich los und ich presste meine Hand auf die blutende Nase. Laura trat an mich heran, Tränen der Wut und Scham glitzerten in ihren Augen. „Laura“, setzte ich an, meine Lippe war ebenfalls aufgeplatzt und blutig, „es tut mir leid, ehrlich. Ich hab nicht nachgedacht.“
Sie holte aus und scheuerte mir eine, mein Wangenknochen pulsierte noch vom ersten Schlag, dieser zweite machte es nicht besser.
„Du mieses, egoistisches Arschloch!“, schrie sie mich an, dann wirbelte sie herum und rannte schluchzend aus dem Zimmer.
„Laura, Liebling, warte!“ Lydia fuchtelte mit ihrem Wurstfinger vor meiner Nase herum und schrie: „Das wird Sie noch teuer zu stehen kommen!“ Dann sauste sie ihrer Tochter nach.
Marvin sah mich an, fassungslos, zutiefst enttäuscht. Ich hätte gerne was gesagt, wie leid es mir tat, dass ich seine Hochzeit ruiniert hatte. Dass ich ein Vollidiot wäre und alles tun würde, um das wiedergutzumachen. Doch in diesem Moment wurde mir klar, dass nichts, was ich sagte oder tat, irgendwas an dieser Sache besser machen konnte. Ich hatte es verbockt.
Schließlich wandte Marvin sich ab. Er sagte zu einem der Männer, die mich festgehalten hatten, offenbar ein Page: „Können Sie dafür sorgen, dass das Bett neu bezogen wird? Und die Rosenblätter verschwinden, bitte? Ja?“
„Natürlich.“ Der Page nickte betreten. „Ich kümmere mich darum, Herr Lieblich.“
„Danke“, sagte der kraftlos, und ohne mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen, ging er aus dem Zimmer.
Ich wollte ihm nach, machte einen wackligen Schritt nach vorn. „Marvin ...“ Meine Stimme klang seltsam hohl und fremd.
In der Tür stieß er mit Edda zusammen, die mittlerweile wohl auch schon von der Katastrophe gehört hatte und ihn bestürzt ansah. „Marvin ... ich ...“
„Ist okay, Ed“, murmelte er und schob sich an ihr vorbei. Und weg war er.
Ich ließ den Kopf hängen. Blut tropfte auf den Boden, auf meine blank polierten Schuhe, auf die teure schwarze Hose. Ich schmeckte es auch im Mund, diesen ekligen, metallenen Geschmack. Ich musste nicht mal mehr würgen. Den Geschmack von Blut war ich gewohnt.
„Komm mit, Chris.“ Edda war neben mich getreten und nahm sanft meine Hand. „Wir kümmern uns mal um deine Wunden, hm? Na komm.“ Sie führte mich aus dem Zimmer, wobei ich mich auf sie stützte, als wäre sie mein Krückstock, das Einzige, was mich auf den Beinen hielt. Und so war es auch.
Alles fühlte sich merkwürdig an. Irreal. War das gerade wirklich alles passiert? Und das, obwohl eigentlich gar nichts passiert war?
Ich hielt ganz still, während Edda auf der Toilette meine Wunden versorgte, so sanft und behutsam wie damals, als sie mich auf der Straße aufgelesen hatte. In ihren Augen konnte ich keinerlei Enttäuschung oder Vorwurf sehen, sondern einfach nur Besorgnis. Um mich und meinen Gesundheitszustand. Sanft wischte sie mir das Blut von der Nase und den Lippen, brachte mich dazu, mir den Mund auszuspülen, und kühlte meinen Wangenknochen, der stark schmerzte. In meiner Nase prickelte es.
„Ich hab nicht mit ihr geschlafen, Ed“, murmelte ich schwach, während mein Kopf gegen die kühlen Fliesen in meinem Rücken sank. „Ich schwöre dir bei allem, was mir lieb ist, wir hatten keinen Sex.“
„Schsch, schon gut. Ich glaube dir“, sagte sie tröstend, ging vor mir in die Hocke und legte ihre Hände auf meine Knie. „Aber, Chris, was hast du dir nur dabei gedacht?“
„Nichts“, ächzte ich, „ich hab gar nichts gedacht. Ich war nur stinksauer auf Laura, weil sie Sophia und mich bei Luke rangehängt hat.“
„Und da dachtest du, du würgst ihr schön eins rein, indem du ihre Cousine flachlegst?“ Nun klang sie doch vorwurfsvoll, sah mich kopfschüttelnd an. „Der arme Marvin ist völlig am Ende. Er konnte es nicht fassen, als Lennart, Janas Vater, beim Portier nach dem Verbleib seiner Tochter fragte und der sagte, dass sie vor einer knappen halben Stunde mit dir in der Hochzeitssuite verschwunden sei ‒ angeblich wegen einer Überraschung.“ Sie rollte mit den Augen. „Ich hab mir schon gedacht, dass das nur ’ne Ausrede war. Laura war sofort auf 180, Lydia hatte einen halben Herzinfarkt, nur Marvin hat fest dran geglaubt, dass ihr wirklich eine Überraschung vorbereitet, und wollte die Masse sogar daran hindern, das Zimmer zu stürmen. Er meinte, so was würdest du niemals tun.“
Das schlechte Gewissen war kaum auszuhalten.
Niedergeschlagen und wie ein geprügelter Hund hockte ich zusammengesackt auf dem Toilettendeckel, meine Augen brannten mit einem Mal. „Ich hab richtig Mist gebaut, oder?“
„Nun ... ja“, meinte Edda schonungslos wie immer und klopfte mir aufmunternd auf die Knie. „Marvin ist total verletzt und schockiert, Laura ist am Ende mit den Nerven, aber wenn du dich jetzt gleich bei den beiden entschuldigst, wenn du mit Marvin redest, vielleicht ... hm, vielleicht versöhnt ihr euch dann wieder.“
„Meinst du?“ Hoffnungsvoll blickte ich auf. Edda zuckte verzagt mit den Schultern. Ich griff nach ihrer Hand. „Würdest du mir denn verzeihen? Wenn ich an deinem Hochzeitstag mit irgendeiner Fremden, der Cousine deines Mannes, in deinem Hochzeitsbett fast Sex hätte?“
Sie legte den Kopf etwas schief, sah mich nachdenklich an. Plötzlich streckte sie die Hand aus, glitt damit sanft durch mein Haar, pflückte ein Rosenblatt heraus und drehte es zwischen den Fingern. „Ich wäre so was von sauer auf dich“, meinte sie langsam.
„Zu Recht“, murmelte ich.
„Und ... keine Ahnung, vielleicht würde ich dich sogar hassen. Im ersten Moment. Für die erste Zeit. Ich könnte mir vorstellen, dass ich nie wieder mit dir reden wollen würde. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich irgendwann erkennen würde, dass du einfach nur ein Hitzkopf bist, der eingeschnappt war und übers Ziel hinausgeschossen ist.“ Sie schluckte und ich sah Tränen in ihren Augen.
Ich drückte ihre Hand fester, biss mir auf die Unterlippe, weil auch mir nun zum Heulen zumute war, was wirklich extrem peinlich war.
„Ich würde dich so sehr vermissen, dass ich es gar nicht aushalten könnte, für immer ohne dich zu sein. Du bist zwar manchmal nervig und ein Schwein, Waldoff, aber wenn’s drauf ankommt, bist du immer da. Dann kann man auf dich zählen.“
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