»Was hab ich getan?«
Seine Stimme nun kraftlos.
»Was hab ich bloß getan?«
Er wankte über das Feld und sank nach 100, vielleicht auch 200 Metern auf die Knie, legte Anna behutsam ab, schob den Pullover unter ihren Kopf, und während sie sich im Liegen erbrach, sah sie Lennart zurück zum Haus rennen. Er verschwand in Rauch und Feuer, für immer.
Liebste Anna
Ich bin ein ganz, ganz dummer Junge. Was ich getan habe, war nicht richtig. Im Rechnen hatte ich immer Einsen, trotzdem hab ich mich verzählt.
1 Papa,
1 Mama,
1 Brüderchen.
Das macht nach Adam Ries 3 feine Leichen. Dabei sollte das Sümmchen das Doppelte ergeben. Aber sei bitte nicht enttäuscht, ich werde die Rechnung korrigieren. Dein Onkel, deine Tante und der schöne David sind als Nächstes dran.
Einen schönen Tag wünsche ich Dir,
Küsschen.
»Meine Fresse«, sagte Willy Urban, während er auf dem Küchenstuhl stand und den Fliegenfänger musterte.
Der Streifen war von oben bis unten mit Ungeziefer übersät; einige Kadaver sahen aus, als wären sie in Zuckerwatte getaucht worden. Das kam vom Fliegenschimmel, einem Pilz, der die Tiere bei lebendigem Leib zersetzte und deren Kadaver so anschwellen ließ, dass sie auf ihre Artgenossen äußerst betörend wirkten. Versuchten die gesunden Fliegen nun, den Kadaver zu begatten, infizierten sie sich ebenso. Verdammte Geilheit, dachte Willy und rupfte das Band von der Decke.
Er durchquerte die Küche und gab sich alle Mühe, die klebrige Falle auf Abstand zu halten. Wenn er etwas mit seinen 69 Jahren hasste, dann war es Wäschewaschen; allein die Vorstellung, die Klamotten nach Hell und Dunkel zu sortieren, später auf die Leine zu hängen, zusammenzulegen oder gar bügeln zu müssen, bog ihm die Fußnägel zurück. Die Bundfaltenhose und das Karohemd hatte er heute frisch angezogen, aber seine Steppweste strotzte derart vor Dreck, dass kein Fliegenschiss sie hätte besudeln können.
Er zerrte den Mülleimer aus dem Spülschrank, warf den Streifen hinein und machte sich gedanklich die Notiz, eine Packung »Fliegentod« zu kaufen. Im Sommer wimmelte es hier vor Ungeziefer, sodass die Fliegenklatsche sein treuester Begleiter war; jetzt ruhte das Viehzeug allerdings in Winterstarre.
Er hob eine offene Flasche Bier vom Tisch, trank einen Schluck und schlurfte zum Backofen. Nach dem Aufwachen heute Morgen hatte er in der klammen Kälte seines Hauses beschlossen, die Gefriertruhe abzustellen. Seit Tagen hielten sich die Temperaturen unter null. Der Kasten fraß unnötig Strom, und ihm fiel kein plausibler Grund ein, weshalb er die wenigen Lebensmittel nicht im Schuppen oder auf dem Fenstersims lagern sollte; die Kälte gab es immerhin frei Haus. Neben Fischstäbchen und Preiselbeeren hatte er in der Truhe einen Beutel Pflaumen entdeckt, die er im letzten Herbst eigenhändig gepflückt, entkernt und eingefroren hatte. Als Willy den Backofen nun öffnete, strömte ihm der Duft eines hausgemachten Pflaumenkuchens entgegen.
Der Teig wölbte sich über das Blech, an den Rändern leicht gebräunt, in der Mitte zartgelb, und der Fruchtsaft warf auf den Pflaumen winzige Bläschen. Er pikste mit dem Messer hinein und musterte anschließend die Klinge. Fast fertig, dachte Willy und verdrehte in heller Vorfreude die Augen.
Er nahm eine Kuchengabel und einen Teller von Evas Lieblingsgeschirr aus dem Schrank. Handgemaltes Rosenmotiv auf weißem Porzellan. Dann latschte er, den Backgeruch in der Nase, den Speichel im Mundwinkel, zur Anrichte und griff nach dem Zuckertopf. Ein Stück Pflaumenkuchen ohne Zucker war wie eine Suppe ohne Fettaugen oder Kaffee ohne Sahne.
»Verdammt«, fluchte er. »Alle.«
Er hatte den letzten Zucker für den Hefeteig verwendet, eine Erkenntnis, so giftig und bitter, dass er das Bier in einem Zug leerte. Die Küchenuhr zeigte halb sechs. Seine Abendplanung sah keine Fahrt zum Netto vor; er wollte die Beine ausstrecken, den Kuchen verputzen, zwei oder drei Schnäpse kippen und sich einen Dokumarathon auf »National Geographic« geben. Außerdem hatte er im Laufe des Nachtmittags drei Bier getrunken, was eine Autofahrt de facto ausschloss. Als ehemaliger Polizist klebte ihm die Vorbildfunktion an den Fersen wie Hühnerkacke. Er strich sich das Haar zurück, öffnete ein neues Bier und latschte in die Wohnstube. Die Freude auf den Kuchen war dahin.
Der Abend schwärzte die Fenster, und das Licht der Stehlampe leckte über die Scheiben und Ofenkacheln. Willy hakte die Daumen in die Westentaschen und beäugte sein Spiegelbild im Fenster. Früher hatte Evas Putzfimmel dafür gesorgt, dass er sich mit scharfen Konturen und feinen Details auf dem Glas wiedererkannte; jetzt war seine Gestalt unscharf, schwammig und seines Erachtens viel zu fett. Eva hätte ihn beim Anblick der Wohnstube garantiert eine Drecksau geschimpft. Dabei saugte er regelmäßig Staub, schrubbte das Klo einmal im Monat und ließ den Abwasch höchstens eine Woche stehen. Andere Dinge vernachlässigte er, insbesondere solche Dinge, die Eva erledigt hatte: Fenster putzen, Vorräte auffüllen, Staub wischen oder eben die Wäsche waschen.
In einem Anflug von schlechtem Gewissen schnappte er sich das Kissen vom Ofenhocker und rieb es über die Kacheln, dann trottete er zu dem Küchenbüfett an der hinteren Wand. Das Möbelstück passte nicht in die Wohnstube, wirkte hier deplatziert, als stünde es für den Sperrmüll bereit. Willy fand es praktisch, erstens hatte auf der Arbeitsfläche sein Plattenspieler Platz und zweitens konnte er den unteren Teil mit allerlei Krimskrams zumüllen. Halbherzig strich er das Sitzkissen über das Holz und die Glastüren. Wäre ihre Ehe nicht kinderlos geblieben, hätte Willy sich wohl zum Besseren entwickelt; wahrscheinlich wäre er heute einer dieser perfekten Witwer, deren Verlust ungeahnte Kräfte in ihnen mobilisierte. Diese Super-Witwer, die im Kirchenchor singen oder Hunde aus dem Tierheim Gassi führen, die mit dem Fahrrad zum Bioladen fahren und Grundschülern Geschichten vorlesen. Willy hatte keine Kinder, denen er Autonomie oder Lebensfreude beweisen musste, und somit drang das Licht Jahr für Jahr dumpfer durch die Fenster. Nicht mehr lang und in seiner Wohnstube würde ewige Dämmerung herrschen.
Er pflanzte sich aufs Sofa, schob das Kissen hinter seinen Rücken, und solange seine Finger zwischen den Polstern nach der Fernbedienung stöberten, beäugte er die rechte Wand. Früher zierte die Tapete ein auf Pappe geleimtes Puzzle, das Eva während ihrer Chemotherapie gemacht hatte; heute hingen dort Fotos und Zeitungsartikel und eine Karte vom Westhavelland.
»Kannst du mir mal verraten, was ich übersehn hab?«, fragte er in die Stille hinein. »Hä?«
Doch Eva reagierte nicht, mit keinem Wort, keiner Geste.
»Was frag ich dich überhaupt«, motzte er. »Du hast schon damals die Schnauze voll gehabt.«
Er spähte nach den beiden Fotografien, die im Zentrum seiner Sammlung hingen. Auf der besseren Aufnahme sah man einen jungen Mann neben seiner Mutter. Martin und Lisbeth Berger. Willy hatte das Foto Mitte der 90er geknipst, was die Persönlichkeitsrechte der beiden verletzte und ihm fast eine Abmahnung eingebracht hätte.
Das zweite Foto, das ein Vogelkundler aus Pechlin geschossen hatte, war in Schwarz-Weiß und zeigte einen Ausschnitt der Gollwitzer Heide: im Hintergrund der graue Himmel und die Landschaft, im Vordergrund eine Straße und die verwischte Gestalt eines Mopeds inklusive Fahrer. Das Kennzeichen war von Matsch verdreckt und dementsprechend unbrauchbar. Henning Kokles hatte den Heimflug der Kraniche festhalten wollen, und das Moped war ihm zufällig ins Bild geraten. Für ihn eine verpfuschte Aufnahme, für Willy der Beweis, nach dem er lange gesucht hatte. Manchmal wünschte er sich, dieser Zufall hätte sich nie ereignet und Kokles zwei Sekunden später den Auslöser gedrückt. Vielleicht wäre er dann auch ohne Kinder einer dieser perfekten Witwer geworden.
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