2. Sicherheitspolitische Dimension
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Gefahrenabwehrrecht ist staatliche – hoheitliche – Kernmaterie (Art. 20, 33 GG)[80]. Der Staat ist zum aktiven Schutz der inneren Sicherheit verpflichtet. Mittel dieses Schutzes sind nicht nur Befehl und Zwang, sondern Maßnahmen der Aufklärung, der Lenkung und Förderung[81]. Unabhängig von der Frage, ob und inwieweit private Sicherheitsdienste am Markt operieren[82], kommt ein Rückzug des Staates aus diesem staatlichen Kernbereich aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht in Betracht[83]. Den privaten Sicherheitsunternehmen geht es nicht um allseitige Rechtsverwirklichung, sondern um einseitige Rechtsdurchsetzung[84]. Private Sicherheitsdienste üben keine Hoheitsgewalt aus, sie dürfen sich nur auf die für Jedermann geltenden Not- und Selbsthilferechte berufen[85]. Formen der gesetzlichen Beleihung („einzige rechtsstaatlich einwandfreie Kooperationsform, sofern es um die Übertragung oder Gestattung von Zwangsbefugnissen geht“[86]) sollten sich auf eng umrissene Ausnahmetatbestände in nicht grundrechtlich relevanten Bereichen (wie bloße Hilfstätigkeiten Beauftragter, vgl. § 19) beschränken[87]. Soziale Mächtigkeit allein oder die gewerberechtliche Genehmigung des privatwirtschaftlichen Tätigwerdens führen nicht dazu, dass sich die aus dem grundrechtlichen Freiheitsbereich ergebende staatlich anerkannte private Gewalt zu hoheitlicher Zwangsgewalt wandelt[88]. „Zwischenzonen zwischen Staat und Gesellschaft wie ‚Sicherheitspartnerschaften‘ und andere Formen des ‚public private partnership‘ sind auch hier möglichst zu vermeiden, um die Kategorien zwischen ‚öffentlicher‘ und ‚privater‘ Sicherheit, hoheitlichen und individuellen Zwangsbefugnissen nicht weiter zu verwischen.“[89] Forderungen nach besonderen Befugnisnormen für das Sicherheitsgewerbe ist eine Absage zu erteilen[90]. Verfassungsrechtlich ist die Konjunktur privater Sicherheitsdienste, die, rechtlich gesehen, nicht mehr als allenfalls Vorsorge für den Notwehrfall bieten können, als Symptom des Staatsversagens einzuordnen[91]. Gesellschaftspolitisch tragen Phänomene wie dieses zum Zerfall von Gesellschaften bei, denn private Sicherheitsdienste bedeuten gekaufte Sicherheit, indes: Sicherheit nur für die, die es sich leisten können[92], für die, wie Stendhal einst (in ganz anderem Zusammenhang) schrieb, „happy few“.
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Eine andere Frage ist, inwieweit es für Private eine Pflicht zur Eigensicherung (zur Vermeidung des Eintritts der Polizeipflichtigkeit) geben kann[93]. Die Frage spielt z. B. bei der Bereithaltung eines zum Einsatz von Notrechten bereiten Bewachungsdienstes eine Rolle; rechtsdogmatisch dürfte es in der Regel um Vorfeldtätigkeiten zur Vermeidung einer Störerhaftung gehen. Generalisierende Lösungen verbieten sich und es kommt auf den Einzelfall an[94]. Unzulässige Gefahrenvorsorge wäre es, an einen Nichtstörer das Gebot zu erlassen, vorsorglich eigene Schutzvorkehrungen bereitzuhalten oder zu schaffen, damit er gegen Gefahren gesichert ist und so gar nicht erst zum Störer werden kann[95].
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Auf der anderen Seite können sich weder einfacher Gesetzgeber noch Verwaltung der verfassungsrechtlichen Zuweisung der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung entziehen. Beide mögen in Zeiten knapper Kassen ständig in der Versuchung stehen, wesentliche Felder der Sicherheitsgewähr an tatsächlich oder vermeintlich kapitalkräftige Private „abzutreten“. Die Politik ist immer und parteiübergreifend in der Versuchung, (ungeliebte) hoheitliche Kernaufgaben zu „privatisieren“, während andererseits aus wahltaktischen Gründen Nebensächliches und Leistungsstaatliches in den Vordergrund gerückt wird, auch haushaltswirtschaftlich. Dies ist angesichts des demokratischen Prinzips des Grundgesetzes indes nicht zulässig. Der Staat muss Sicherheit und Ordnung als Kernkompetenz betreiben und darf die Sorge darum nicht „privatisieren“[96]. Das OVG hat daher zu Recht die Auffassung zurückgewiesen, das Hafensicherheitsgesetz NRW gehe von einer „vollumfänglichen Sicherheitsverantwortung des Hafenbetreibers“ aus, ebenso hat es darauf hingewiesen, es ginge nicht ohne Weiteres an, durch Vorschriften des öffentlichen Rechts den privatrechtlichen Rechtskreis eines Privaten gegen dessen Willen zu erweitern, um ihn auf diese Weise in die Pflicht zu nehmen, seine privaten Rechte in einer bestimmten Weise auszuüben[97].
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Allgemein wird man konstatieren können: Je „weiter“ eine bestimmte Materie des Besonderen Verwaltungsrechts von der Aufgabe der Gefahrenabwehr im Sinne des OBG entfernt ist, desto eher werden „weiche“ Kooperations- und Handlungsformen verfassungsrechtlich zulässig und einfachgesetzlich auch (schon) angeordnet sein. Hier verläuft eine Linie von OBG und Polizeigesetz über das besondere Gefahrenabwehrrecht – wie das Bau- und Straßenrecht – zu differenziert und vielfach regulierten Bereichen wie dem Telekommunikationsrecht, bis schließlich hin zum Wettbewerbsrecht (UWG), das ohne staatliche Behörde auskommt, dessen Einhaltung vielmehr Privaten überantwortet ist (wobei die staatlich eingerichtete und verantwortete Zwangsvollstreckung zu beachten ist)[98]. Eine Kernaufgabe unternehmerischer und staatlicher Sicherheitsvorsorge ist der Schutz der kritischen Infrastruktur, ein Bereich, in den auch die Ordnungsbehörden eingebunden sind und der in den nächsten Jahren stark an Bedeutung gewinnen wird[99].
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Abschließend soll der Eindruck einer gewissen Verwunderung nicht verschwiegen werden, den bestimmte Entwicklungen im Ordnungsbehörden- und Polizeirecht in den letzten Jahrzehnten hervorgerufen haben. Aus dem rechtsstaatlichen Blickwinkel zu begrüßen ist, dass bestimmte Rechtsrelikte preußisch-obrigkeitsstaatlichen Schlages mittlerweile abgetan wurden, etwa die verfehlte Parole von der angeblich nicht gegebenen „Polizeipflichtigkeit der Hoheitsträger“ auf der Basis der vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Forstpolizeiurteil[100] dekretierten diffusen „Abwägungslehre“[101]. Bedenklich erscheint auf der anderen Seite zum Beispiel, dass der noch Anfang der 1970er-Jahre nahezu streitfrei geltende Grundsatz, dass es keine Rechts- bzw. Pflichtennachfolge in die Störerhaftung gibt, mittlerweile in sein genaues Gegenteil verkehrt worden ist – ohne einen Federstrich des Gesetzgebers[102]. Auch die oftmals reflexionsarme Verwendung einer rechtsstaatlich problematischen Figur wie jener des „Zweckveranlassers“ weckt Unbehagen[103].
Allein diese Beispiele belegen, dass niemals aus den Augen verloren werden sollte, dass Ordnungsrecht letztlich konkretisiertes Verfassungsrecht ist und sich gerade auf diesem Feld in besonderer Weise das rechtsstaatliche Niveau eines Gemeinwesens zeigt.
[1]Allgemein zur Entwicklung insbes. Möstl, S. 15 ff.
[2]Preuß. Gesetzessammlung S. 77; dazu Naas, passim.
[3]GV. NW. I S. 403.
[4]GV. NW. I S. 330. Näher zur geschichtlichen Entwicklung: Bastian, passim.
[5]Näher zur grundgesetzlichen Kompetenzverteilung im Sicherheits- und Ordnungsrecht BVerfGE 97, 198 (218: „keine allgemeine, mit den Landespolizeien konkurrierende Bundespolizei“); Dietlein: in: Dietlein/Burgi/Hellermann, § 3 Rn. 6 ff.; Schenke, Rn. 25 ff.
[6]Vgl. BMI (Hg.), Musterentwurf eines Verwaltungsverfahrensgesetzes (EVwVerfG 1963), 1964.
[7] → Unten Rn. 8, § 20 Rn. 1.
[8]Rietdorf, 1. Aufl., S. XV.
[9]Rietdorf, DÖV 1956, 7 (16).
[10]LT-Drs. 1441.
[11]Landtag Nordrhein-Westfalen – 3. WP – Band I, Drs. Nr. 6, dann: Erste Lesung am 23. September 1954, Sten. Ber., 3. WP, S. 50 C ff.; Bericht des Innenausschusses vom 20. Juni 1955, Drs. Nr. 196; weiterer Bericht des Innenausschusses vom 11. Oktober 1955, Drs. Nr. 243; Zweite Lesung am 13. Dezember 1955, Sten. Ber. 3. WP, S. 822 D ff. sowie LT-Drs. Nr. 243 und 273; Dritte Lesung am 3. Oktober 1956, Sten. Ber. 3. WP, S. 1481 B ff. und Drs. Nr. 399.
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