1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 Ich stöhne laut auf. Felix prahlt mit meinem Lügenfeuer, als ob es eine Superkraft wäre. Dabei bereitet es mir nichts als Ärger. Sogar bei meinen eigenen Flunkereien bricht es aus. Niemand kann sich vorstellen, wie nervig das ist.
Ungläubig schüttelt Mila den Kopf, daher schlägt Felix einen Test vor. Mila soll zwei Geschichten erzählen, eine wahre und eine falsche. „Unser Rotkehlchen wird die Lüge erkennen“, verkündet er voller Vorfreude.
Mila schnieft und wischt sich über die Nase. „Mir fällt gar nichts ein.“
„Das ist doch ganz einfach! Erzähl uns, wo du herkommst. Und zwischendurch flunkerst du ein bisschen … Ich zum Beispiel komme aus dem Grünland.“ Felix zieht den Glücksglobus aus seiner Tasche und deutet auf einen der kleinen Kontinente. „Hier kannst du es sehen.“
Bestürzt schiebt Mila seine Hand beiseite. „Du musst deinen Talisman verstecken“, flüstert sie. „Sonst nehmen sie ihn dir weg und bestrafen dich vielleicht noch dafür.“
Sofort greife ich nach dem Rauringsplitter unter meinem Hemd. Schnell stelle ich meinen Hemdkragen auf, um ihn noch besser zu verbergen. Felix verzieht erschrocken den Mund und steckt seinen Globus hastig weg, wobei sein Blick unruhig umherschweift. Aber weil weit und breit niemand zu sehen ist, lächelt er uns wieder an. „Was ich sagen wollte: Meine Urgroßeltern waren Grünbauern mit ganz vielen Tieren auf ihrem Hof.“ Verschwörerisch zwinkert er mir zu. „Naaa, Emo, wo bleibt dein Lügenfeuer?“
„Das kümmert sich nicht um deine Scherze. Nur echte Lügen brennen und jucken bei mir.“
Mila richtet sich im Sessel auf und blinzelt erstaunt. „Du meinst, wenn dich jemand bewusst täuschen will? Dann erkennst du die Unwahrheit?“
Felix schaut sich vorsichtig um. „Wir verraten dir noch ein Geheimnis. Senator Sark ist ein Lügner. Wenn ihn Emony nur in den Nachrichten sieht, sträuben sich bei ihr schon die Haare“, flüstert er.
Wie unbedacht von Felix! Wenn Mila nicht dichthält, sind wir beide dran. Ich werfe ihm einen warnenden Blick zu.
„Im Gesicht merke ich gar nichts“, wiegle ich ab. „Wenn er zu reden anfängt, überkommt mich manchmal ein komisches Gefühl. Aber das geht doch jedem so.“
Da bricht es aus Mila heraus: „Mein Vater verabscheut den Sark auch! Das sagt er natürlich nicht laut, aber das Sektorbüro hat es trotzdem irgendwie spitzgekriegt. Jetzt haben sie ihn auf dem Kieker und wollen ihm wegen aufsässiger Gesinnung seinen Rauring wegnehmen. Dabei kann er mit seinem schwachen Herz sowieso schon nicht mehr an den Pipelines arbeiten!“ Milas Stimme ist ungewohnt laut geworden. Als sie das merkt, zieht sie verschämt den Kopf ein und schiebt leise nach: „Wenn er den Ring auch noch verliert, ist er ein Niemand, eine Unperson. Mit dem Register-Chip ist er auf einen Schlag sein Konto los und seine ganze Rente. Deshalb will ich Adoptin werden.“
Mila beißt sich auf die Lippe, als hätte sie Angst, sich verplappert zu haben. Am liebsten würde ich sie ganz fest drücken. Schließlich weiß ich jetzt, dass ich den schleimigen Sark nicht als Einzige hasse.
„Ich muss für meinen Vater sorgen“, rechtfertigt sie sich. „Seit dem Tod meiner Mutter hat er doch nur noch mich.“
„Hast du auch keine Geschwister, so wie Emony und ich?“, fragt Felix.
„Nein“, antwortet Mila, einen Tick zu energisch.
Meine Ohren kribbeln. „Bist du wirklich ein Einzelkind?“
Milas Mund bleibt eine Sekunde lang offen stehen. „Jetzt schon. Mein großer Bruder ist spurlos verschwunden. Vor einem Jahr.“ Sie zieht die Knie wieder an die Brust und legt ihren Kopf darauf. Mehr will sie nicht erzählen.
Ich weiß genau, wie es ihr geht.
Endlich ruft uns der Lautsprecher ins Medizinzentrum. Felix springt auf und verschwindet in Richtung Schlafsaal, um seinen Talisman unter der Matratze zu verstecken, bevor uns die Ärzte filzen. Wieder taste ich nach meiner Rauring-Kette, die nun unter dem hochgeschlossenen Hemdkragen verborgen ist. Hoffentlich nehmen sie mir die nicht weg. Sie ist zusammengelötet und hat keinen Verschluss. Um sie abzunehmen und zu verstecken, hätte ich sie kaputt machen müssen. Aber das hätte ich nie übers Herz gebracht, denn diese Kette ist die einzige greifbare Verbindung zu meinem Vater. Die kann ich unmöglich zerreißen.
Während ich über all das nachgrüble, sind Mila und ich in dem fensterlosen, aber von kühlen Lichtfeldern taghell erleuchteten Untersuchungsraum angekommen. Schnaufend schließt auch Felix zu uns auf. Die Untersuchung soll mit einer Blutabnahme beginnen, erklärt uns eine Tonbandstimme. Zur individuellen Anpassung unseres Nomen-Implantats seien umfangreiche Labortests notwendig. Blutgruppen, Rhesusfaktoren, Rezeptorstrukturen, blabla, schwafel, schwafel. Jedes Implantat ein Unikat! Und ganz nebenbei werde uns die große Ehre zuteil, mit unserer Blutspende der weiteren Nomen-Forschung zu dienen.
„Und wenn ich nix spenden will?“, sagt Felix grummelnd, wobei er unruhig auf den Zehenspitzen auf und ab wippt.
„Gibt es denn hier keinen Arzt?“, fragt Olya und wickelt nervös eine blonde Locke um ihren Finger.
Als Antwort surrt eine Milchglasscheibe zur Seite und gibt den Blick auf eine Reihe glänzender Stative frei. Darauf sind erschreckend große leere Flaschen montiert, von denen dicke Schläuche herunterhängen. Keller, Kern, Omen … Jede hat ein Namensschild. Sie sollen ganz offensichtlich mit Blut gefüllt werden. Felix schnappt hörbar nach Luft. Alle flüstern aufgeregt durcheinander.
Mit einem Mal nähern sich polternde Schritte. Aufgeregt drehen wir uns um. Das wird doch nicht Tarmo sein? Er ist es. Schlagartig wird es mucksmäuschenstill.
„Wir prüfen jetzt eure Belastbarkeit“, erklärt er mit scharfer, schneidender Stimme. „Schwächlinge haben hier im Trainingslager nichts zu suchen, also sortieren wir frühzeitig aus.“
Nun bleibt selbst Felix die Spucke weg. Sein Mund steht halb offen. Alle Farbe ist ihm aus dem Gesicht gewichen, sogar seine Sommersprossen sind verblasst.
Tarmo klopft auf eine der leeren Flaschen. Es klingt erschreckend hohl, doch der Glatzkopf grinst. „Jetzt stellt sich heraus, was in euch Dörrpflaumen steckt!“
Beim Anblick der blitzenden Stative wird mir schummrig. Aus dem Augenwinkel bemerke ich eine Bewegung. Das Mädchen neben mir ächzt, und ihre Knie knicken ein.
„Das ist die Erste“, verkündet Tarmo höhnisch. Er winkt zwei Helfer herbei, damit sie die Ohnmächtige hinaustragen.
„Wer freiwillig gehen will, tut das am besten jetzt“, sagt er und schaut sich herausfordernd um.
Weil sich keiner meldet, werden die ersten drei an die Blutabnahmeständer angeschlossen und kriegen einen Schaumstoffball in die Hand gedrückt. Den sollen sie rhythmisch quetschen, damit das Blut im Schlauch hochsteigt. Meine Knie fühlen sich wie Pudding an. Ich blicke mich nach einem Stuhl um, allerdings gibt es keinen.
Als ich zusammen mit Mila und einem kräftigen Typen namens Ben aufgerufen werde, versichert mir mein Verstand, dass das machbar sein sollte. Aber mein Bauch ist da anderer Meinung. Mit einem flauen Gefühl im Magen beobachte ich, wie der Arzthelfer meine Unterarme nach einer passenden Vene absucht und die potenzielle Einstichstelle desinfiziert. Ein Zittern geht durch meinen Körper, kaum dass er die metallene, kalte Kanüle in meine Vene schiebt. Meine Finger fühlen sich matt und kraftlos an, doch ich schließe meine Hand um den Quetschball, der die Form einer halben WERT-Weltkugel hat, und drücke zu. Ich konzentriere mich auf das leise Zischen des Erdballs, dem bei jedem Quetschen die Luft entweicht. Im Unterarm spüre ich ein dumpfes Stechen. Ist das jetzt gut oder schlecht?
Egal. Ich schaffe das.
Der Junge neben mir drückt seinen Ball mit aller Kraft und lockt so dunkelrotes Blut aus seinen Venen. Langsam steigt es in dem durchsichtigen Schlauch hoch und kriecht durch die Windungen wie Sonora, die sich auf das Chamäleon zu schlängelt. Ich wende mich ab.
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