1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 „Nicht wegschauen“, befiehlt Tarmo. „Guck auf die Flasche! Da drin ist schließlich dein Innerstes.“
Olya fragt, ob die Gefäße wirklich randvoll werden müssen. Grinsend bejaht Tarmo das. Ein kollektives Aufstöhnen erfüllt den Raum.
Dann hören wir nur noch das Gurgeln in unseren Schläuchen. Nicht nur das eklige Geräusch lässt mich genauer hinblicken. Tarmos Antwort auf Olyas Frage hat auch meinen Ohrläppchenbrand ausgelöst. Und da sehe ich es: Die Flasche hat eine doppelte Wand, genau wie der Schlauch. Das Blut muss nur die äußere Gefäßhülle füllen.
Um Felix und Mila meine Entdeckung mitzuteilen, schnalze ich leise mit der Zunge und zeige mit dem Kinn auf die Flasche. Mila schaut mich fragend an, schließlich lächelt sie. Felix dagegen starrt nur blicklos ins Leere. Als Kind ist er einmal gegen einen Generatorkasten geknallt und hat sich eine Platzwunde am Kopf geholt. Es war halb so schlimm, aber er ist umgekippt, weil er sein eigenes Blut nicht sehen konnte. Kein Wunder, dass er jetzt gefährlich schwankt.
Vor lauter Sorge um Felix vergesse ich meine eigene Angst und schaue überrascht auf, als der Pfleger meine Nadel entfernt. Ich habe es geschafft. Wieder einen Schritt näher daran, eine Adoptin zu werden.
6. Kapitel
Im Ruheraum reicht mir ein dunkelhaariger Arzt einen großen Becher mit Trinkhalm. Den Typen kenne ich doch! Das ist das schweigsame Männermodel vom Trainertisch. Dann ist er also gar kein Ausbilder? Schade, in seine Gruppe wäre ich gern gekommen. Seine braunen Augen wirken so … vertrauenerweckend. Der Arztkittel steht ihm genauso wie die Sportjacke, die er gestern anhatte. Ich plumpse in den Sitz neben Mila, die mich schwach anlächelt. Das schaumige Getränk schmeckt intensiv und leicht salzig.
Lange Zeit sind nur Sauggeräusche zu hören. Der Dunkelhaarige beobachtet uns. Ich schätze ihn auf knapp zwanzig. Auf seinem weißen Kittel prangt ein großes WERT-Emblem. Emony, du starrst schon wieder, würde meine Mutter mich jetzt ermahnen. Schnell senke ich den Blick und beschäftige mich mit meinem Trinkbecher.
Wann kommt endlich Felix? Er ist doch fit. Er muss es einfach schaffen. Ohne ihn halte ich es hier nicht aus. Ich atme auf, da er nach einer gefühlten Ewigkeit durch die Tür wankt. Er greift sich einen Becher, als wäre es ein Rettungsseil, und lässt sich in den Sessel neben mir fallen. Seine Nase ist ganz weiß. Geräuschvoll schlürft er das Schaumgetränk bis auf den letzten Tropfen leer, ohne den Arzt zu bemerken, der um unsere Aufmerksamkeit bittet. Erst als ein Mädchen lacht, richtet sich Felix in seinem Sitz auf.
Der Weißkittel sieht Felix stirnrunzelnd an, bevor er sich vorstellt. „Mein Name ist Kohen Sander, ich begleite euer dreimonatiges Trainings- und Auswahlprogramm. Euren Chefausbilder Tarmo habt ihr schon kennengelernt. Auch ich heiße euch herzlich willkommen im Adoptenzentrum von WERT.“
Ich horche auf. Also ist er doch ein Trainer. Unser Trainer! Und er scheint kein besonders großer Fan von Tarmo zu sein. Das hat seine Stimme verraten. Sie war erst voll und warm, ist aber bei der Erwähnung des Chefs eine Oktave tiefer gerutscht. Noch ein Pluspunkt für den Lockenkopf.
Allerdings hat Kohen sich sofort wieder im Griff. „Mit der Blutabnahme habt ihr bereits den ersten Test bestanden“, sagt er. „Sie bereitet gleichzeitig die Nomen-Implantation vor.“
Aufgeregtes Getuschel geht durch unsere Gruppe, doch unter dem strengen Trainerblick legt es sich schnell.
„Ihr seht jetzt einen kurzen Informationsfilm.“ Kohen greift sich an das linke Handgelenk, und in der Luft neben ihm erscheint ein gläserner menschlicher Oberkörper. Das überlebensgroße Hologramm wird durch eine Reihe von Lichtschlitzen aus der Wand in den Raum projiziert. Wir erkennen den menschlichen Blutkreislauf und sehen eine Animation, die Botenstoffe durch röhrenförmige Adern rasen lässt. Dazu erklärt eine körperlose Frauenstimme, dass die Blutabnahme zur Bestimmung unseres Gesundheitszustandes dient und die Form unserer chemischen Stressreaktion testet.
Aha. Soso. Daher also der Schwindel mit den Doppelwand-Flaschen.
Jetzt schwebt ein silbrig glänzendes Nomen-Modul in zehnfacher Vergrößerung im Projektionsraum. Es besteht aus einem dreieckigen Kernstück, das an die Halswirbelsäule andockt, und aus einem kleineren Bedienteil im linken Handgelenk.
„Das Nomen schickt DNA-Sonden ins Blut seines Trägers, um dessen Gesundheitszustand laufend zu überwachen. Entdecken sie ein Gesundheitsrisiko, bildet das Implantat passende Enzyme, die automatisch regulierend eingreifen“, erklärt die Sprecherin.
„Äh, was?“ Felix schaut völlig verwirrt drein.
„Diese sogenannten DNA-Bots senden die notwendigen Wirkstoffe zielgerichtet an erkrankte Zellen, während gesunde unberührt bleiben“, spricht die Frau weiter.
Die Miene von Felix hellt sich auf. „Eingebaute Soforthilfe? Gefällt mir.“
Kohen stoppt die Vorführung mit einem knappen Wink. „Die Nomen-Gesundheitsüberwachung hat sich wirklich bewährt“, versichert er. „Fast jeder Mensch hat Entzündungen im Körper, ohne es zu wissen. Die meldet das Gerät und reguliert sie umgehend.“
Neben mir bewegt sich etwas. Morry betastet den dicken Pickel an seinem Kinn. Alle drehen sich zu ihm um und starren auf die unappetitlichen roten Pusteln in seinem Gesicht.
„Unreine Haut ist eine typische Folge winziger Entzündungsherde“, erläutert Kohen. „Die nächste Animation zeigt an genau diesem Beispiel, wie die Nomen-Technologie funktioniert.“
Morry ist rot geworden wie eine reife Tomate. „Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig“, kommentiert Olya und erntet schallendes Gelächter. Morry krümmt sich förmlich vor Scham.
„Ruhe, oder ich breche die Vorführung ab“, mahnt Kohen knurrend, wobei er unsere Runde mit einem zornigen Blick bedenkt.
„Spaßbremse“, flüstert Olya, dann allerdings verfolgt auch sie mit großen Augen den Holofilm, worin blau glänzende Wirkstoffe in einen eitrigen Pickel eindringen und ihn rückstandsfrei auflösen. Verstohlen zupfe ich an meinen Ärmeln, unter denen sich entzündete Kratzstellen verbergen. Ein unverhofftes Mittel gegen meine Feuerkrankheit! Allerdings wird meine Vorfreude gleich wieder von meinem schlechten Gewissen verdrängt. Für normale Rauringbewohner ist eine so kostspielige medizinische Versorgung unerreichbarer Luxus.
„In Notfällen bestellt das Nomen sofort ärztliche Hilfe an die Position seines Trägers“, fährt die Sprecherin fort. „Dieses fortschrittliche System, das WERT ständig weiterentwickelt, gewährleistet den Adopten optimale medizinische Betreuung, wo immer sie sich befinden.“
Und die totale Überwachung. Mit dem Nomen-Implantat weiß WERT jederzeit, wo wir sind. Irgendwie geht mir das gegen den Strich.
Während der Holofilm die Errungenschaften des innovativen DNA-Datenspeichers anpreist, betritt ein zweiter Arzt den Raum. Sein glattes Gesicht wirkt alterslos, doch die grauen Schläfen deuten auf einen Mittfünfziger hin. Mit dem kerzengeraden Rücken überragt er Kohen und strahlt einschüchternde Autorität aus. Seine altjapanischen Züge bewegen sich keinen Millimeter, bis der Film zu Ende ist. Danach gleitet sein abschätziger Blick über uns und bleibt eine lange Schrecksekunde an mir hängen.
Er räuspert sich. „Ich bin der medizinische Leiter bei WERT und führe jetzt die Nomen-Implantationen durch.“ Ich wippe unruhig mit den Füßen auf und ab. Sich namentlich vorzustellen, hat der wohl nicht nötig.
Mila runzelt die Stirn, bevor ihre Augen kugelrund werden. In ihrer Miene spiegeln sich Ehrfurcht und Sorge wider. Natürlich traut sie sich nichts zu sagen, aber kaum dass die beiden Weißkittel den Ruheraum in Richtung Operationssaal verlassen haben, bricht es aus ihr heraus: „Das ist Dr. Kaishen. Er hat das Nomen quasi erfunden, vor dreißig Jahren, und hat seitdem viele Durchbrüche zur Verbesserung der Technologie erzielt. In Medizinerkreisen ist er berühmt und gefürchtet. Zwei Patienten sollen bei seinen Versuchen schon gestorben sein.“
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