Kultur, gottlob, lässt sich politisch nicht dekretieren. Sie muss lediglich wachsen dürfen und bedarf dazu des Bodens und eines günstigen Klimas. Ist das gegeben, gedeiht sie nahezu von allein, grünt und blüht und lebt in Konkurrenz und in Symbiose, vereint in Vielfalt und in Widerspruch: ein lebendiger Organismus, vernetzt und verletzlich, und insofern der Pflege bedürftig.
Aha. Spätestens an dieser Stelle hören Politiker die Nachtigall deutlich trapsen. Ganz recht, Kultur kostet Geld. Doch zahlt sie sich auch aus. Was ein Land, eine Stadt für die Kultur tut, wird sie diesen mehrfach vergelten. Städte wie Paris, Amsterdam, Zürich, New York oder Salzburg wissen, was sie an ihr haben. Was ausstrahlt, zieht auch an. Und nicht nur die Touristen. Kultur ist eine Humusschicht, auf der allerlei gedeiht, neue Ideen vor allem. Sie stellt nicht lediglich nur dar, was ist, sie regt an, spielt durch, bereitet geistig vor, was werden soll. Sie erzeugt eine Nachfrage, meint Walter Benjamin, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist. Kultur als Investition in die Zukunft.
Berlin sucht derzeit Investoren, insonderheit der ramponierte Osten dieser Stadt. Nachdem die Transparente von den Fassaden sind, sieht man die ruinösen Hinterlassenschaften besser. Not aber macht erfinderisch.
Und so hat die neue Kulturverwaltung der ärmeren Stadthälfte einen Kulturatlas entwickelt, der in Europa werben soll für Kulturprojekte. Unter anderem für das Filmkunsthaus Babylon am Luxemburgplatz. Den Prater in der Kastanienallee. Das Projekt Tacheles in der Oranienburger Straße. Die Kulturfabrik Pfefferberg in der Schönhauser Allee. Die Kulturbrauerei Ecke Sredzkistraße.
Da wird zentral avisiert, was künftig dezentral funktionieren soll. Kein Widerspruch: Die neue Verwaltung will, bravo und bravissimo, nicht mehr Obergärtner sein (in der realsozialistischen Vergangenheit, requiescat in pace, waren’s nicht selten die Böcke, die da rigide gärtnerten), der mit Rasenmäher und Herbiziden den Wildwuchs verhindert und jedes Kräutlein, das da unverschämterweise einfach so wachsen will, zum Unkraut erklärt und der Ruhe und Ordnung halber jätet. Jede lebendige Hochkultur wächst von unten auf, vom Boden her. Wer diesen versiegelt, weil ihn das anarchische Gären, das kreative Keimen und das unkontrollierbare Wimmeln in den unteren Regionen beunruhigt, entzieht sich selbst den Nährstoffstrom, trocknet aus, verholzt, stirbt ab und bricht im ersten Sturm des Herbstes. So geschehen 1989.
Es wird einmal. Die märchenhafte Eingangsformel, ins Futurum gewendet, sieht die Perspektive Berlins entweder als Modellstadt, in der es einen neuen Frieden zwischen Kultur, Ökonomie und Ökologie geben wird, oder als kommerzielle Kapitale, in der so ziemlich alles kollabiert: Verkehr, sozialer Frieden, natürliche Umwelt.
Die Vereinigung der beiden Hälften wird nur dann etwas Neues bringen, wenn es gleichberechtigt, ohne Unterwerfung, abgeht, ohne die triumphale Selbstgerechtigkeit der jüngsten Sieger der Geschichte, die denen im Osten empfehlen, ihre Biografien im nationalen Müllcontainer zu entsorgen und sich flugs ein westliches Outfit zuzulegen. Die Chance besteht im Überwinden des dualistischen Entweder-oder zugunsten des pluralistischen Sowohlals-auch.
Die künftige Kultur Berlins müsste dann den Widerspruch, alternative Ideen, antizipatorische Phantasie und selbst die Gegenkultur nicht mehr als subversiv bemisstrauen, sondern willkommen heißen. Berlin als Heimstatt der Ketzer, Träumer, Fantasten und Experimentatoren. Berlin als Impulsgeber, Forum, Drehscheibe, Schnittpunkt und Fokus östlicher und westlicher Kulturen. Die Kultur als eine Komposition von Zukunftsprojektion und Geschichtsbewusstsein, von Basis- und Hochkultur, von Ernst und Witz, von Produzenten und Destruenten, von kommunalen, freien und kommerziellen Initiativen.
Notwendig wird Berlin dafür ein Talent zur Unordnung brauchen, was hier auf traditionell preußischem Boden zwar schwerfallen, aber nicht unmöglich sein dürfte. Und es braucht den Mut zur schöpferischen Destruktion, dem ständigen Stirb-und-werde alles Lebendigen. Wandel und Wechsel als das Beständige, die Veränderung als das Stabilisierende – so hätte Berlin kulturelle Zukunft.
Mit Glanz. Doch ohne Gloria.
Zuerst veröffentlicht: Der Morgen, 24. Dezember 1990
Ein Gespenst geht um in Europa: das Gespenst der Utopielosigkeit. Es folgt dem Brautgang Osteuropas gen Westen auf dem Fuße nach. Die blasse Braut (… nach schwerer Enttäuschung, steht in ihrer noch druckfeuchten Heiratsannonce) eilt ihrem beleibten Bräutigam in die Arme, um sich mit ihm vor den Augen der Welt zu vereinen. Hochzeit ist angesagt in Europa, doch ob es eine Hoch-Zeit werden wird, hängt daran, ob sich die Brautleute eine Perspektive geben, die übers bloße Morgen, über den Vollzug der Kopulation hinausweist, in eine Zukunft hinterm Horizont, der sich im Nähern stets entfernt. Einer Vision wird das vermählte Europa bedürfen, um zu dauern, einer gänzlich neuen, gespeist aus dem reichen gemeinsamen Fundus und den Erfahrungen der Trennungszeit, da die Eheleute der zu tiefen Wasser wegen nicht zueinanderkommen konnten.
Solch ein Entwurf müsste die westlich proklamierte individuelle Freiheit mit der östlich, ursprünglich intendierten kollektiven Gerechtigkeit verbinden. Beides hat es einzeln wirklich und wahrhaftig nie gegeben. Die kollektive Gerechtigkeit pervertierte im Osten zu repressiver Nivellierung, zu einem administrativen Reglement, das nicht etwa, wie tolldreist behauptet, der Menschheit eine Epoche voraus war, sondern zwei zurückfiel: in die Strukturen des Ancien régime. Und der Okzident, der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit versprach? Sind dessen hehre Werte in der Praxis nicht zu ungerechter Freiheit bunt verflacht, und wird die im Konsum kollektiv verdrängte Ungerechtigkeit nicht unabweisbar evident, weiten wir den eurozentrierten Blick ins Globale?
Was Ernst Bloch vor 70 Jahren beschrieb, ist heute, leider, noch immer nicht hoffnungslos veraltet.
„Soweit also musste, konnte es schließlich mit uns kommen. Wes Brot ich ess’, des Lied ich sing’. Aber dieser Tanz um das Kalb und Kalbsfell zugleich und nichts anderes dahinter war doch überraschend. Das macht, wir haben keinen sozialistischen Gedanken. Sondern wir sind ärmer als die armen Tiere geworden; wem nicht der Bauch, dem ist der Staat sein Gott, alles andere ist zum Spaß und zur Unterhaltung herabgesunken. Wir haben Sehnsucht und kurzes Wissen, aber wenig Tat … In uns allein brennt noch dieses Licht, und der phantastische Zug zu ihm beginnt, der Zug zur Deutung des Wachtraums, zur Handhabung des utopisch prinzipiellen Begriffs. Diesen zu finden, das Rechte zu finden, um dessentwillen es sich ziemt zu leben, organisiert zu sein, Zeit zu haben, dazu gehen wir, hauen wir die metaphysisch konstitutiven Wege, rufen was nicht ist, bauen ins Blaue hinein, bauen uns in Blaue hinein und suchen dort das Wahre, Wirkliche, wo das bloß Tatsächliche verschwindet – incipit vita nova.“
Das bloß Tatsächliche: Utopie ist offensichtlich nicht ersetzbar durch Bruttosozialprodukt und Wachstumsraten, nicht durch kurz- oder bestenfalls mittelfristige Politikinhalte, nicht durch Diesseits und Jenseits versöhnende Religionen. Gegen die Macht des Tatsächlichen, gegen die Zwänge des Entweder-oder, in denen wir Täter und Opfer zugleich sind, muss ein Kraut wachsen bei Strafe des Untergangs, der ein Suizid wäre: das heilende und kräftigende Wunderkraut der Utopie, des Hoffens, des Tagträumens nach vorn.
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