Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
JOACHIM WALTHERgeb. 1943, 1963–1967 Studium Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin. 1968–1983 Lektor und Herausgeber im Buchverlag Der Morgen Berlin, Kündigung wegen Problemen mit der Zensur. 1969–1989 Überwachung durch das MfS. Seit 1983 freiberuflicher Schriftsteller. 1992–1996 wiss. Mitarbeiter der Gauck-Behörde. Veröffentlichungen u. a. in SPIEGEL, Zeit, FAZ, Frankfurter Rundschau, Weltbühne, Tagesspiegel und im Deutschlandradio.
JOACHIM WALTHER
DAS BLÖKEN DER WÖLFE
PUBLIZISTIK 1970–2013
mitteldeutscher verlag
Umschlagabbildung: © morokey – Fotolia.com
2017
© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
www.mitteldeutscherverlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
ISBN: 978-3-95462-966-4
E-Book-Umsetzung: Zeilenwert GmbH
Cover
Titel JOACHIM WALTHER DAS BLÖKEN DER WÖLFE PUBLIZISTIK 1970–2013 mitteldeutscher verlag
Impressum Umschlagabbildung: © morokey – Fotolia.com 2017 © mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale) www.mitteldeutscherverlag.de Alle Rechte vorbehalten. Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) ISBN: 978-3-95462-966-4 E-Book-Umsetzung: Zeilenwert GmbH
Kleine Vorbemerkung
Journal einer Nachsaison
Straße in Berlin
Weltreise am Alexanderplatz
Kurioses in der Mohrenstraße
Der Lektor als Entdecker
Ungehaltene Rede
Der lautlose Krieg
125. moralische Epistel
Mehr als glauben, mehr als hoffen
Der kranke Patient
Rede zu einem überfälligen Rücktritt
Kunstlose Vereinigung?
Woyzeck in Amerika
Pressfreiheit
Nachruf auf einen Verband
17 Jahre Leben
Vom Kult zur Kultur
Unzeitgemäße Gedanken
Kant pars pro toto
Boot im Fluss der Zeit
Das Ganze und seine Teile
Ein schwacher Abgang
Stimulation statt Simulation
Deckname Eduard
Brief an Salman Rushdie
Vom Blöken der Wölfe
Flug mit brennenden Flügeln
Sündenfall der Poesie
Wider die eilfertigen Rechercheure
Ehrenname Diversant
Stalins Erblast
Ich nahm mir die Freiheit, Pfeife zu rauchen
Statement für eine Akademie
Tellerjongleur im Dichtergarten
Gone West: So what now
In vino veritas
Eine Fabel zur Wahl
Der Heinz hieß Georg
Ein Amerikaner in Berlin
Die problematische Erbschaft
Vom Klirren und Krähen der Fahnen
Pedro Hagen in Petershagen
Erotische Blöcke
„Im stinkenden Untergrund“
Die Firma schreibt vor und mit
Machtwort und Widerwort
Zum Ersten, zum Zweiten
Vom Credo des Schreibens
Undankbarer Job
Kleiner Schlüssel, große Tür
Der Stasi-Komplex
Unbeirrt schreiben
Gespalten wie die Welt
Die Ästhetik der Kentauren
Zwei deutsche PEN – eine never ending story
Wortkaskaden wie Gottesurteile
Zum Tode Erich Mielkes
Porträt BB als Collage
Die Nato auf dem Balkan
Zehn Jahre deutsche Einheit
Non mea culpa
Erich Loest: 23/59
Die Flut, die Medien und die Menschen
Lob der Renegaten
Halten zu Gnaden
Was die Werte noch wert sind
Es geht seinen Gang
Damals heute
Das Beispiel Havemann
Freundbild
Deutsches Tohuwabohu
Brüll Müll und andere Menschen
Kollektive Abwehr
Adieu Henryk!
In bester Gesellschaft. Jeremiade und Laudatio
Rasante Beschleunigung
Stille Bestimmtheit, sanfte Beharrung
Böcke als Gärtner?
Künstler im Fadenkreuz
Aufarbeiter DDR
20 Jahre Mauerfall, eine Zwischenbilanz
Weltzeitgeist
Kampf um das Erinnern
Codename „Bolzen“
Dialog um jeden Preis?
Ostwestdeutschland
Linke Litanei
Textkörper
Glossar
Personenregister
Weitere Informationen
1970, bei meinem ersten Gespräch in der Redaktion der „Weltbühne“, einem Blatt mit radikaldemokratischer, bürgerlich linker Tradition aus den zwanziger Jahren und eben deshalb mit einem Resthauch von Exklusivität innerhalb der kahlgeschlagenen DDR-Presselandschaft, sprach der betagte, welterfahrene Chefredakteur Hermann Budzislawski zu mir mit Emphase: „Junger Mann, stoßen Sie die Fenster auf, es riecht muffig in diesem Land!“ Höchst erstaunt und wild entschlossen, dieser nie zuvor gehörten Ermunterung nachzukommen, musste ich nach dem ersten leichten Berühren der Fenstergriffe jedoch erfahren, dass sie abgeschlossen waren und die Schlüssel, gut bewacht, sehr viel weiter oben lagen. Als ich die Idee hatte, Interviews mit von mir ausgewählten Arbeitern zu machen und tolldreist ins Exposé schrieb, die Protokolle sollten zeigen, wie die Arbeiter im Lande ungeschönt redeten und was sie wirklich dächten, da war es mit mir bei der „Weltbühne“ schnell vorbei. Der Ermunterer war bereits im Ruhestand, und ich, noch immer im Unruhestand, machte weitere Erfahrungen bei anderen Blättern, die sich zunehmend glichen, die Erfahrungen wie die Blätter. Eine Genossin Redakteurin schrieb ein Interview mit mir kurzerhand und weitgehend um und erwiderte auf meine Proteste: Ganz im Gegenteil, ich solle ihr dankbar sein, denn nur so sei druckbar, was ich gesagt und sie geschrieben hätte. Der hinzugezogene hartleibige Genosse Chefredakteur wies meine anhaltende Entrüstung mit dem jede Diskussion beendenden Hinweis auf den sich ständig verschärfenden Klassenkampf sowie den niemals schlafenden Klassenfeind als politisch falsch und mithin unzulässig zurück. Nach solchen und weiteren Lektionen ließ ich als DDR-Insasse all meine publizistischen Hoffnungen fahren.
Dann allerdings kam das Jahr 1989 und es begann nach Revolution zu riechen. Vorsichtig erst, dann immer stärker tat sich höchst Erfreuliches. Zum Beispiel erwachte in den Redaktionen nach und nach das Ethos des tot geglaubten, freien Journalismus. Nachdem der Putz schon länger von den Wänden war, knirschte es nun auch in den rostigen Staatsscharnieren, es bogen sich die lügegetränkten Balken, es rieselte hörbar der Kalk der dogmatischen Hirne, und es war eine Lust, nicht nur die Fenster, sondern auch die Türen aufzustoßen!
Und schließlich, historisch gesehen schon wenig später, der Jahrhundertschritt in die bisher verweigerte Offenheit: die Freiheit des Wortes, der Meinung, der öffentlichen Medien als vierter Gewalt. Nur wer meinte, mit dem Fall der Diktatur sei auch das Ende aller gesellschaftlichen wie individuellen Unzulänglichkeiten oder gar der Geschichte gekommen, konnte enttäuscht werden. Wer wie ich froh war, sich nun endlich unbevormundet den tatsächlichen Problemen zuwenden zu können, stürzte sich ins Vergnügen der publizistischen Arbeit, die allerdings konkret nicht immer so vergnüglich war.
Zunächst ging es vor allem um das Aufarbeiten der jüngsten Vergangenheit, das ein offen und verdeckt geführter Kampf um das Erinnern, gegen die Gefahr einer zweiten deutschen Verdrängung wurde. Im Kern ging es um das engagierte und kritische Begleiten von notwendigen Transformationsprozessen: von überholten Strukturen, von gestocktem Bewusstsein, von zementierten Geschichtsbildern, einer Bewegung vom Geschlossenen hin zum Offenen, kurz und etwas pathetisch, der Verteidigung der individuellen Menschenrechte wie der Grundwerte einer zivilen und offenen Gesellschaft. Eine Aufgabe, weiß ich heute, die niemals zu Ende ist.
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