Es gibt Täter und Opfer, und zwischen diesen Polen liegt ein weites Terrain, in dem die Grenzen verfließen. Hier ist der bevorzugte Ort, wo sich jeder Einzelne selbst befragen sollte, was er getan hat und was unterlassen, was er hätte wissen können und nicht wissen wollte, wo er schwieg und wo er hätte reden und schreiben müssen. Auch ich.
Dass dieser alte, von der SED funktionalisierte Schriftstellerverband seit dem letzten Herbst nicht mehr existierte und spätestens seit dem außerordentlichen Kongress im März 1990 ein personell, programmatisch und strukturell erneuerter Verband war, ist kaum zur Kenntnis genommen worden. Nunmehr mittellos, stellt er mit dem Jahresende seine Tätigkeit ein. Es gibt keine Staatsflagge überm Sarkophag, der Denkstein ist eine abgebrochene Säule, der letzte Gang jedoch mehr eine Überführung denn ein Begräbnis.
Für die künftige Vertretung der Interessen und Rechte der AutorInnen im geeinten Deutschland ist gesorgt: Der Verband deutscher Schriftsteller (VS) in der IG Medien steht bereit, die ostelbisch heimatlos Gewordenen aufzunehmen. Er wird, so ist zu hoffen, allen seinen Mitgliedern die Bedingungen sichern und erstreiten, die ihnen ihr Eigentliches erlauben: frei zu sein, das zu schreiben, was sie, ohne äußere Zwänge, schreiben müssen.
Zuerst veröffentlicht: der Freitag, 7. Dezember 1990
Tagebuch-Notate 1973–1990
18.2.73
Literarisch hineingeboren in die Zeit, da Literatur das Leben meistern helfen sollte, das Land allseitig stärken, die Arbeitsproduktivität kraft des Bewusstseins heben, die Zeit um den VI. Schriftstellerkongress 69, auf dem erstaunliche Redner auftraten, die mit verbalem Senkrechtstart bereits nach wenigen Sekunden über den Wolken waren, zu verstehen nur noch für jene, deren Empfänger im gleichen ideologisch-synthetischen Wellenbereich arbeiteten. Christa Wolf wurde gescholten, rote Kongressmappen verteilt, deshalb der Witz: „Rotmäppchen und die böse Wolf“. Die Jungen wurden zu glätten versucht, das Markige und Hohltönende füllte die Luft, das Leise überjubelt. Und so erschien mir die Anspielung, die sorgsam versteckte Kritik wie eine Heldentat. Das schleichende Einüben der Selbstzensur, der Zucker zum Versüßen des Schlafs, die Peitsche steht sichtbar in der Ecke.
6.3.73
Auffällig die Inflation des Adjektivs „echt“: echtes Gefühl, echte Begeisterung, echtes Gespräch, echter Klassenstandpunkt. Dito „ehrlich“: ehrliche Meinung, ehrliches Bekenntnis, ehrliche Diskussionen etc. Untrügliches Zeichen, wie viel Unechtes, Unehrliches, wie viel Schein statt Sein um uns, in uns ist.
31.8.73
Unglaubliches Becher-Gedicht gefunden: Dort wirst du, Stalin, stehn, in voller Blüte / Der Apfelbäume an dem Bodensee. / Und durch den Schwarzwald wandert seine Güte / Und winkt zu sich heran ein scheues Reh. Aber, so offiziell: In der DDR hat es Stalinismus nie gegeben.
28.1.74
Das bleibt aber unter uns: idiomatische Redewendung elitärer, dosierter Informationspolitik. Solange diese Wendung nicht in den Zeitungen steht, sollte man Zirkel, Versammlungen, wo so gesprochen wird, demonstrativ verlassen. Dieses Unter-uns-gesagt: Es gibt keine Demokratie für einige Wenige, es gibt nur die für alle – oder keine. Demokratie ohne Volksbeteiligung: ein sprachlicher Irrwitz, reale Farce.
5.10.74
Schrittweiser Abbau der großen Hoffnungen nach dem 8. Parteitag. Erhofft waren das Ende des schweigenden Gänsemarsches, des Händchenhaltens und des verdächtig lauten Singens, das Ende der Tabus, der Beginn des öffentlichen Meinungs- und Ideenstreites, der sozialistischen Demokratie. Aber: Nach einem verhalten kritischen Artikel wird Chefredakteur entlassen, die Nützlichkeit des Meinungsstreits wird theoretisch beteuert, praktisch jedoch administrativ verhindert. Keine Transparenz, sondern Transparente.
12.1.75
„Er hat sein Vaterland verraten“: Kann man verraten, wofür oder wogegen man sich zu entscheiden keine Möglichkeit hatte? Ist der Bürger mit seiner Geburt Staatseigentum? Ist er jemals gefragt worden, war es ihm erlaubt, wahr zu antworten? Die befestigten Grenzen: Stubenarrest für ein ganzes Volk. Wofür aber wird es bestraft?
23.7.75
Unser endgültiger Sieg über die Natur wird der gigantischste Suizid in der Weltgeschichte und das Ende der Menschheitsgeschichte werden. Vorwärts?
28.8.75
Verlautbarungen der marxistischen Partei: … stets haben wir recht behalten … die Partei, die Partei hat immer recht. Marx aber schrieb: „… die Kommune machte keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit, wie dies alle die alten Regierungen ohne Ausnahme tun. Sie veröffentlichte alle Reden und Handlungen, sie weihte das Publikum ein in alle ihre Unvollkommenheiten.“ Marx vermurkst.
1.9.75
Grotesk die geistige Defensive der Gesellschaft, die vorgibt, der anderen um eine ganze Epoche voraus zu sein. Bitter die Unmündigkeit des Volks, das, theoretisch, das Sagen hat. Anachronistisch das Einzäunen des befreiten Menschen.
7.10.75
Die Umgangsformen unserer Repräsentanten werden immer bürgerlicher, schlimmer noch: feudalabsolutistischer: Jagdrechte, eingezäunte Absonderung, Staatskarossen, gestaffelte Privilegien, Hofhaltung, Protokoll bis hin zu Zeremonien. Wieso glauben sie, diese Formen übernehmen zu müssen, sich zu absentieren, um zu repräsentieren? Gehören die Repräsentanten der Klasse eigentlich noch zur Klasse? Wäre nicht vorstellbar, sie gingen ins Freibad Pankow, wenn sie schwimmen wollten, säßen mitten im Parkett, nicht in der Fürstenloge, äßen, was alle essen, schirmten sich nicht ab vorm Volk, dessen Teil zu sein sie unablässig behaupten?
16.2.76
„Kramladen“ in Weißensee: eine Veranstaltungsreihe, getragen vom Publikum, wird abgewürgt. Bettina W. darf nicht auftreten, Klubhausbeirat wird einfach aufgelöst, die Auflöser sind selbstredend nicht anwesend, nur Stellvertreter: der Dr.-Dichter W., die Stasi und jede Menge bestellte Claqueurs. Die Dogmatiker siegen, der Sozialismus verliert ein weiteres Mal.
30.3.76
Die Utopie lebt als Axolotl in den abgesoffenen Uranschächten des Erzgebirges, bleich und blind.
20.4.76
Die hiesigen Medien lassen die Sonne ununterbrochen scheinen. Dadurch republikweit Bodenerosion, fehlende Feuchte, kein reinigendes Gewitter. Wo die Luft derart trocken ist, wird exzessiv gesoffen. Das Land dürstet nach Wahrheit, die Spiegel sind mit Parolen überklebt, die Ohren verstopft mit ideologischen Wortpfropfen, Sprachknete erschwert das Vorwärtsgehen. Die Arbeit der Vielen, die Macht der Wenigen.
25.8.76
Preußischer Sozialismus: freudlos, grau, militant, verbeamtet, ohne Spontaneität und Humor, eng, intolerant, eckig, von ärmlicher Ölsockel-Sauberkeit. Klingelnde Worthülsen: ewig, heilig, grenzenlose Treue und Ergebenheit, absolutes Vertrauen, unverbrüchliche Freundschaft, ruhmreich, volle Übereinstimmung …
30.11.76
Schwarzer November. Anfang: Einberufung zur Armee, ein halbes Jahr. Ende: Ausbürgerung Biermanns. Verhöre durch Stasi-Offiziere, die sogenannten VO (Verbindungsoffizier, Jargon: Vau-Null) der Armee, die das Gespräche nennen. Ur-Ängste: Demütigung und Bedrohung.
13.1.77
Stimmung im Lande: Resignation, Sich-abfinden mit nichtfunktionierender Infrastruktur (Mangel, Bürokratisierung), Immunität gegen Medienjubel, subjektive Überlebensstrategien: Korruption, Schiebereien, Rückzug ins Private. Die listige Gleichgültigkeit des Mündels Volk. Der Zusammenhang zwischen Mündigkeit, Verantwortlichkeit und Kreativität! Stattdessen: Vernichten der Basisinitiativen, Züchten der Uninteressiertheit, lieblose Geschmacklosigkeit, Zudecken der Fehler mit Polit-Posaunen, autoritäre Erziehung, Überwachung, fehlende Öffentlichkeit, Rechtsunsicherheit, deshalb die wuchernde Staatssicherheit.
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