So brach’s aus ihm heraus, und ich wusste ihm nicht viel zu sagen. Dass er jederzeit zu mir kommen könne, wenn er mich brauche. Dass er versuchen solle, ihr trotz allem zu vertrauen, um ihr die Möglichkeit zu lassen zurückzufinden. Er aber winkte ab, es sei zu spät, einer von beiden müsse aus der Welt, und alles spräche dafür, dass er es sei. Drei Tage später war sie tot. Ertrunken in der Ostsee, wo sie mit dem anderen war, sie schwamm hinaus, immer weiter, der andere rief, sie hörte nicht, der andere kam zu spät. Jens überlebte ihren Tod. Doch wie.
Nach einem Jahr noch ist es, als wäre alle Farbe aus ihm gewichen, er ist ein Schatten seiner selbst, eine Skala von Grautönen, die von Selbstanklage bis Misanthropie reicht und tief getönt ist von Misstrauen, Bindungsangst und einem generellen Schutzsyndrom, das alles abwehrt, was an seine offene Wunde rühren könnte. Er ist der ständig Misstrauische, der nichts lieber möchte, als wieder zu vertrauen, doch so tief verletzt ist, dass er fürchtet, was er sehnlichst wünscht. Aber davon spricht er nicht. Er spricht von illusionslosem Realismus, von Autonomie und von der Unmöglichkeit der Liebe. Es ist eine der stillen Tragödien, deren Inhalt auch Vertrauen ist. Er will nicht hören, dass seine Eifersucht ihre Untreue auch provoziert haben könnte, dass Barbara sein Misstrauen lediglich rechtfertigte, da er ihr keinen Grund mehr gab, gut zu sein. Er will nicht sehen, wie sein in sie gesetztes Vertrauen eine solch hohe und hehre Erwartung an den Himmel der Liebe projizierte, dass sie sich unter Druck gesetzt und davon überfordert fühlen musste, so dass sie sich dieser moralischen Nötigung durch Flucht entzog. Er aber verschließt die Trauer wie die Schuld und ist nach außen hin der neue Typ: der Single, der allein zurechtkommt, sich selbst genug ist, der die Frustration vorwegnimmt, um sie später zu vermeiden, der nichts verlieren kann, weil er nichts gibt, was er nicht auch zurückerhält.
Und darin gleicht er Laura, der Studentin, die im „Woyzeck“ die Marie spielte. Laura ist Mitte Zwanzig, hat schon eine Ehe hinter sich, und ich sah sie auf dem Campus ausschließlich in Hosen und mit Rucksack, nie mit Rock, und nur im Stück mit einem Kleid, sie läuft Marathon, trainiert täglich nur für sich, ohne die grellen und eigens dafür hergestellten Accessoires der Freizeitindustrie, läuft für sich und lebt für sich, in Boston. Vertrauen zu einem Mann? fragt sie zurück, als ich sie danach frage. Wozu? fragt sie und sagt: Ich bring mich nicht in diese Lage, einem Mann vertrauen zu müssen, und umgekehrt verlang ich auch von keinem Mann, mir zu vertrauen. Ich wäre, er wäre überfordert. Ich bleibe in jeder Phase selbstständig, und wenn ich mit einem Mann etwas Gemeinsames tue, dann weil ich es will, nicht, weil ich muss. Ich bin und bleibe unabhängig. Wieso sollte ich fürchten, ausgenutzt und betrogen zu werden? Wenn ich mit einem Mann schlafe, dann weil er mir gefällt, weil ich es will, und also muss ich ihm nicht vertrauen, da er mir nichts nehmen kann, was ich ihm nicht gebe. Außerdem nehm ich genau so viel von ihm. Das ist unverpflichtete Liebe, ein Vertrag für eine Nacht, der am Morgen seine Gültigkeit verliert und keinen von beiden zu mehr verpflichtet, und sollte es eine zweite Nacht geben, dann mit neuem Vertrag zu gleichen Bedingungen. Vertrauen ist für mich Schwäche: Ich gebe mich auf, ich gebe vor allem meinen Geist auf und fange an zu glauben und muss mich nun auf jemanden verlassen und bin irgendwann wirklich verlassen.
So Laura, die moderne Marie des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts. Und wie ich so reden hörte, kam ich mir vor wie der alte Woyzeck. Versetzt in unsere Gegenwart, ohne angekommen zu sein, ein Schwebezustand, die Flugphase eines Sprungs: abgesprungen, doch nicht aufgekommen, fort von und hin zu etwas, doch mitten in der Luft. Und so ließ ich es sein, Vertrauen eine Tugend zu nennen und Misstrauen eine Schwäche. Es schien mir noch immer nicht grundsätzlich falsch, doch völlig unpassend, dies Laura zu sagen. So als tauchte ein Naosaurus aus dem Perm unter den ersten Vögeln im Jura auf. Wir, Woyzeck, als lebende Fossilien im Holozän. Wie sagtest du zum Hauptmann? Es muss was Schön ’ s sein um die Tugend, Herr Hauptmann, aber ich bin ein armer Kerl. Ja, Woyzeck, das bist du. Und vielleicht sind wir das alle.
Noch ehe ich das Gefühl haben könnte, etwas Praktikables, Griffiges gefunden zu haben, ist die Zeit von Middlebury abgelaufen. Abschied von Jane und Bruce und Laura. Der College-Berg, die grünen Berge von Vermont bleiben hinter mir: Burlington, Boston und New York.
Und dort das Chaos: John-F.-Kennedy-Airport. Oder „worldport“, wie er sich selber nennt. Nicht zu Unrecht, denn in das überlaufende Gefäß aus Beton und Glas schüttet es aus der Luft unaufhörlich Menschenmassen aus aller Welt, die sich hektisch schieben, reiben, stoßen, bis sie mit Bussen oder Taxen einen Ausweg aus der Enge finden oder aber wieder in die Luft geschleudert werden unter dem Gebrüll der Düsen. Sie (und ich als Gleicher unter ihnen) kamen mir vor wie Fische, die, aus ihren vertrauten, heimatlichen Revieren gerissen, in ein Glas geschüttet werden und nun verstört, entfremdet durcheinanderstrudeln, nach Luft schnappen und mit großen Augen gegen die Glaswände des JFK-Aquariums prallen. Das Gefühl, verlorenzugehen, namenlos zu sein, nie wieder aufzutauchen, hinausschwimmen zu können aus dem chaotischen Wirbel. Die zu große Nähe, ohne jemandem nah zu sein. Dieses dichte Aufeinanderrücken, das Flucht oder Aggression auslöst. Diese Fremde unter Fremden, die das Bedürfnis weckt, einen Halt zu finden, einen Menschen in der Masse, der zum Vertrauten werden könnte. Bei mir ist es in solcher Bedrängnis immer eine Frau, nach der ich suche: kindhaft, ohne jede männliche Ambition. Es ist ein Regredieren mit dem Wunsch, an der Hand genommen zu werden: ein Riesenbaby auf Reisen.
Die ganze Stadt: das größere Aquarium. Die Taxifahrt von Penn-Station über die siebte Avenue und die 42. Straße durch den Queens-Midtown-Tunnel hinaus zum Kennedy-Airport wie eine Fahrt quer durch Hölle. Heiß und laut und stickig. WAR ZONE N. Y. C., les ich im Vorüberfahren auf einem T-Shirt einer Schwarzen. Die Ampeln schalten zwar noch rot-gelbgrün, doch hält sich keiner dran, sie fahren alle zugleich auf die Kreuzung und drängen und hupen, bis der andre weicht. Die überlangen, scheibenverspiegelten Chevrolets, in denen vermutlich die Leute mit dem großen Geld sitzen. Im Stau eine bettelnde Gestalt mit nichts auf dem Leib als einem Paar zerfressener Hosen, der Körper über und über von Geschwüren bedeckt. Der Fahrer vor mir gnadenlos, er fährt, sobald ein freies Stück Straße vor ihm ist, herzstockend schnell und wechselt derart riskant die Spuren, dass ich die Augen schließe. Auch eine Form des Vertrauens, die resignative, weil mir sonst ja auch nichts übrigbleibt.
Zu meinem Halt auf dem Airport wird die Frau am PANAM-Schalter, die wunderbarerweise die Zeit findet, ohne Routine aufzublicken und freundlich zu lächeln, und meinen Namen sogar in ihrem Computer findet, was mich mit dankbarer Rührung erfüllt und wieder hoffen lässt, dass es mich wirklich gibt. Sie nennt mir Zeit und Flugsteig, gibt mir die Bordkarte und nimmt mein Gepäck, doch leider mich nicht bei der Hand.
Beim Rückflug dann der Blick voraus in Skepsis: das Land im Umbruch, das Neue, bislang Unbekannte zu Hause als das Fremde, das Unvertraute. Wieder wird ein Stück mehr verändert sein, was mir bekannt war, auch vertraut, was mit den Jahren Heimat wurde, an der auch ich beteiligt war, wenn ohne Begeisterung, so doch durch einfache Anwesenheit. Soll man dem Neuen vertrauen? Oder nicht? Oder ist die Frage falsch gestellt? Ist wiederholtes Vertrauenwollen nicht das Fortsetzen alter Verhaltensmuster unter gründlich veränderten Bedingungen? Das blinde Stolpern aus der geschlossenen Anstalt ins Freie, die neuerliche Euphorie, die in Enttäuschung enden wird? Die bequeme Formel: Vorwärts und schnell vergessen, sie wird notwendig ins neue Fiasko führen. Vertrauen wagen, ohne die Augen zu schließen – könnte das die Lösung sein? Sich einlassen, ohne sich selbst aufzugeben, wozu die eigene Geschichte ebenso gehört wie das Träumen nach vorn, über unsere begrenzte Gegenwart hinaus.
Читать дальше