1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 Ein Klopfen erschreckte Sarah. »Ich bin’s.«
Sie schwang die Füße auf die Navajo-Teppiche, die auf dem gehärteten Lehmboden ausgebreitet lagen, und rief der vertrauten Stimme zu: »Komm rein.«
Daniel schloss die Tür und setzte sich neben sie aufs Bett. Er war gerade aus einem Labor in Phoenix zurückgekehrt, wohin er einige Artefakte zur Radiokarbondatierung gebracht hatte. Es war ungewöhnlich, ihn in sauberen Kleidern zu sehen, die schulterlangen mahagonibraunen Haare zu einem ordentlichen Zopf gebunden. Während der Ausgrabungen kannten sie keinen solchen Luxus.
»Ich war auf der Suche nach dir, und die Männer meinten, du warst schon vor neun verschwunden«, sagte er. »Ist alles okay?«
»Der Tag war nicht der beste.«
»Kann ich helfen?«
»Nur ein weiterer komischer Moment mit Phoebe.« Sarah hatte Daniel von den Spannungen zwischen ihr und Phoebe in jüngster Zeit in Kenntnis gesetzt. Es hatte dezent genug begonnen: Mit einer Jugendlichen, die bei der Arbeit die Augen über die Anweisungen ihrer Leiterin verdreht hatte. Dann war Phoebe immer mehr für sich geblieben und hatte nur mit Nakai und gelegentlich Daniel gesprochen. Bis zu diesem Tag war sie Sarah gegenüber nicht aggressiv gewesen, aber rückblickend erkannte Sarah, dass das Mädchen sie die ganze Zeit ausgeschlossen hatte.
»Wir haben einen kleinen Geländeritt im Blue Canyon unternommen – Phoebe, Nakai und ich. Etwas hat ihr Pferd erschreckt und es rannte durch den kompletten Canyon in ein Blockfeld hinein. Ohne unseren Hopi-Führer hätte es mit ihr aus sein können.«
»Das ist nicht gerade ungewöhnlich. Manche der Pferde waren früher wild. Diese Typen schnappten sie aus den Canyons, warfen Sättel auf sie und gaben ihnen nicht die Spur eines Trainings.«
»Das ist nicht der merkwürdige Teil.« Sie öffnete ihren Laptop und rief die Datei mit den Bildern der Hochhöhle in Canyon de Chelly auf. Sie stoppte beim Foto der Inschrift. »Eine exakte Kopie dieses Zeichens befand sich auf einem der Findlinge.«
»Ach was. Ich hatte nicht gewusst, dass es Felsmalerei im Blue Canyon gibt.«
»Es ist eine natürliche Petroglyphe. Mit schönen Grüßen der Elemente.« Sie zeigte auf das Foto auf dem Bildschirm. »Wer immer das eingeritzt hat, hat davon gewusst.«
»Hast du versucht, die Geschichte der Findlinge herauszubekommen? Ist es eine heilige Stätte oder so?«
»Wann hast du mal einen aufgeschlossenen Hopi getroffen?«
»Gutes Argument. Wir müssen es auf einem anderen Weg herausfinden.«
»Der Führer hat was Interessantes gesagt: Wenn Sie mehr über diesen Ort wissen wollen, warum fragen Sie nicht das Mädchen?« Sarahs Blick wanderte zur Wand aus nackten Holzbalken und Rinde, die als Isolierung dazwischen steckte. Ein Windhauch wehte durch die Öffnung in der Decke und ließ sie frösteln. »Tja, ich hab mit Fingerspitzengefühl versucht, dieses Gespräch anzufangen, und Phoebe hat mir fast den Kopf abgerissen. Sie hat sogar gesagt: Du bist nicht meine Mutter. Das hat wehgetan.«
»Nimm es nicht persönlich, Süße.« Er zählte an den Finger auf, beim Daumen angefangen: »Sie hat ihre Mutter verloren, ihr Vater ist im Gefängnis, weil er sie eingesperrt hatte, ihr Bruder ist querschnittsgelähmt, und sie ist fast vierzehn. Ich würde sagen, das macht sie ziemlich empfindlich.«
Sie stieß den Atem aus. »Es ist schwer, oder?«
»Sich um ein Kind zu sorgen, meinst du?«
»Dieses Kind insbesondere. Ich will ihr helfen, alles zu verarbeiten, aber ich bin nicht sicher, ob ich das Richtige tue. Wir scheinen auf Schritt und Tritt aneinanderzugeraten.«
»Du bist ein guter Mensch, Sarah. Du bist klug, mutig, gerecht – das beste Vorbild, das ein Mädchen haben kann. Ich weiß, dass Phoebe das erkennt. Zweifle nicht an dir.«
»Ich wünschte mir einfach, sie würde so mit mir reden wir mit dir und Nakai.«
»Sechs Jahre lang hatte es nur Männer in ihrem Leben gegeben. So fühlt sie sich wohl. Und sie wurde einer Gehirnwäsche unterzogen, damit sie glaubte, ihre Mutter hätte sie im Stich gelassen. Wahrscheinlich hat sie gelernt, Beziehungen zu Frauen zu misstrauen. Es wird Zeit und Liebe kosten, aber sie wird einlenken.« Er strich ihr übers Haar. »Jetzt schlaf ein bisschen. Morgen geht es früh los.«
»Danke, Danny.« Sie begleitete ihn zur Tür und küsste ihn auf die Wange, direkt über einen übergriffigen Bart. »Wir sehen uns morgen früh.«
Sarah beobachtete, wie Daniel in das Leuchten eines silbernen Monds hinein schritt, bis seine schlanke, fast einen Meter neunzig große Figur mit den Schatten der Felsenlandschaft verschwamm. Sie gab es nicht oft zu, doch seine Stärke und sein gesunder Menschenverstand machten es wett, wenn es ihr daran mangelte. Sie ging davon aus, dass es umgekehrt genauso war. Allein waren sie schrecklich unvollkommene Wesen; gemeinsam kannten sie keine Grenzen.
Sie ging zum Bett und setzte sich auf die Kante, kämmte ihre unordentlichen blonden Locken mit den Fingern durch. Ohne ihre staubige Tageskleidung auszuziehen, legte sie sich mit einer Hand unterm Kopf hin und dachte darüber nach, was sie am Morgen zu Phoebe sagen würde.
Abwesend sah sie zum Holzofen in der Mitte des Raums und dem Rauchrohr, das ihn mit dem Loch in der Decke verband. Direkt unter der Öffnung stieß ein senkrechter Stützbalken auf das Ende des Rohrs, was dem Gebilde eine merkwürdige, kreuzartige Erscheinung verlieh.
Mit weit aufgerissenen Augen setzte sich Sarah auf und flüsterte: »Das ist es.«
Selbst die vollkommene Stille des Ödlands konnte die Unruhe in Phoebes Kopf nicht mindern. Der gehärtete Lehm kühlte ihren Rücken, während sie an der Außenwand des Hogan lehnte und zum Horizont blickte. Sternschnuppen schossen über den mitternächtlichen Himmel. Ihre platingrauen Schweife lösten sich schneller in der Schwärze auf, als man blinzeln konnte. Hier war Schönheit flüchtig: Man durfte sie nicht für selbstverständlich halten.
Sie konnte nicht aufhören, über den Zwischenfall im Blue Canyon nachzudenken. Nicht wegen der Panik, die sie auf dem Rücken eines mit Höchstgeschwindigkeit rennenden Pferdes verspürt hatte, obwohl das auch zutraf, sondern wegen der Beförderung an einen Ort, dessen Zweck ihr unmissverständlich war. Sie wusste es, und der Hopi-Führer wusste es.
Was sie am meisten beunruhigte war die Vision. Sie hatte keine mehr gehabt, seit sie in Delphi unter der Erde gefangen gehalten worden war, wo sie nur an die Oberfläche gekommen waren, wenn die Wölfe heulten und Flammen zu Ehren eines falschen Gottes brannten. In der ununterbrochenen Dunkelheit ihrer Gefangenschaft floh sie in Träume – vom Sonnenschein, vom Geruch des Meeres, von Gelächter, von einer Mutter, die sich mit ihr in einem Mohnblumenfeld drehte.
Wird der Verstand aller Stimuli beraubt, erschafft er seine eigenen. In sechs Jahren der Isolation unter dem Vorwand, sie sei das leibhaftige Orakel von Delphi, hatte Phoebe ihren Sinn für Intuition so sehr geschärft, dass es beinahe an Telepathie grenzte. Der Mann, der sie gefangen hielt, war damit zufrieden gewesen. Es bedeutete, dass sie bereit war für, wie er es nannte, »die Rolle, für die sie bestimmt war«; dem Allerheiligsten der Kultstätte Delphi vorzustehen und die Zukunft zu prophezeien. Um sicherzustellen, dass die Wahnbilder ungehindert flossen, hatte er sie gezwungen, Ethylen einzuatmen, und behauptet, so hätten die Priesterinnen der Antike ihre Fertigkeiten verbessert.
Sie hatte ihm glauben wollen. Er war schließlich ihr Vater.
Das Knacken eines brechenden Zweiges ließ sie hochfahren. Sie machte zwei Schritte vom Hogan weg, blieb aber wie angewurzelt stehen, als sie es wieder hörte, diesmal näher. Ihre Haut kribbelte und ihr Verstand sprang zwischen Angst und Neugier hin und her.
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