Diese Darstellung erschien ihr folgerichtig, sie musste jedem einleuchten. Die Erkenntnis beruhigte Julia. Sie spürte plötzlich Hunger. Ihr Frühstück vom Morgen stand noch im Kühlschrank. Sie nahm die Müslischale heraus, füllte Milch hinzu und setzte Kaffee auf. Der Toast war schon trocken, aber mit etwas Nutella noch genießbar.
Während sie aß, klingelte es an der Haustür. Sie erwartete niemanden, in der Mittagszeit erst recht nicht. Wahrscheinlich Kinder, dachte sie, stand auf und sah aus dem Fenster, von dem aus sie die Straße im Blick hatte. Dort standen die Autos, die auch sonst dort parkten. Das Rentnerehepaar aus dem Erdgeschoss verließ das Haus, um den Hund auszuführen, zwei Radfahrer fuhren in Richtung Innenstadt, sonst war niemand zu sehen. Sie kehrte an ihren Platz zurück und schenkte Kaffee nach. Als es erneut und anhaltend klingelte, seufzte sie, stand wieder auf und ging zur Wohnungstür, um auf den Öffner zu drücken. Wenn es keine spielenden Kinder waren, konnte es nur noch Elisabeth Wilke aus dem Stockwerk über ihr sein, die ihren Schlüssel vergessen hatte. Die alleinstehende Dame passte gelegentlich auf Leonie auf und hatte einen Not-Schlüssel bei Julia deponiert.
Die Schritte, die sich im Treppenhaus ihrer Etage näherten, klangen nicht nach einer Frau, schon gar nicht nach einer älteren. Julia beugte sich über das Geländer und zuckte zurück. Ein dunkelhaariger Mann erklomm zügig die Stufen. Namen und Gesichter von Freunden und Bekannten rasten ihr durch den Kopf. Wer wollte sie um die Zeit besuchen? Unangemeldet! Eigentlich kam nur Malte Hansen infrage, der Kollege aus der Orthopädie, mit dem sie schon zweimal ausgegangen war. Aber auch er würde vorher anrufen oder wenigstens eine Nachricht … Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Sie schlug die Hand vor den Mund, unterdrückte einen Aufschrei und stürzte zurück in die Wohnung. Der Versuch, die Tür zuzuschlagen, scheiterte. Obwohl Julia mit ihrem ganzen Gewicht dagegen drückte, gelang es dem Mann, sie so weit zu öffnen, dass er einen Fuß zwischen Türblatt und Rahmen klemmen konnte. Wütend trat sie gegen den Schuh, doch es nützte nichts, der Mann war stärker, vergrößerte den Spalt Zentimeter um Zentimeter, bis sie rückwärts taumelte. Die Tür schwang auf und krachte gegen die Wand.
»Hallo, Julia.« Erik Börnsen grinste. »Seit wann bist du so abweisend? Ich habe dich ganz anders in Erinnerung. Wir hatten doch eine wunderschöne Nacht – seinerzeit auf Helgoland.«
»Verpiss dich!«, schrie Julia mit überkippender Stimme. »Ich will mit dir nichts zu tun haben!«
Börnsen warf die Wohnungstür ins Schloss und trat auf sie zu. Julia wich zurück. »Hast du aber, meine Liebe. Das lässt sich nicht rückgängig machen. Wir beide sitzen in einem Boot. Wie damals auf der Seeteufel. Und wir sollten das Beste daraus machen.« Sein Blick wanderte von ihrem Kopf bis zu den Füßen und wieder zurück, verharrte dabei kurz auf ihren Brüsten. »Du siehst immer noch verdammt gut aus. Wir könnten unser kleines Spiel von damals fortsetzen.«
Julia schüttelte den Kopf. »Es gibt nichts fortzusetzen«, zischte sie. »Weil nie etwas angefangen hat. Verschwinde jetzt! Oder ich rufe die Polizei.« Sie griff nach ihrem Handy, das auf dem Schuhschrank lag.
Blitzschnell entwand er ihr das Telefon. »Damit würdest du dir keinen Gefallen tun. Ich bin schnell wieder weg, aber du müsstest den Bullen einiges erklären, zum Beispiel, was du heute im Hotel gemacht hast.«
»Da gibt es nichts zu erklären.« Julia erschrak über den schrillen Klang ihrer Stimme. »Dein Vater wollte mich sprechen. Aber er war nicht da. Das ist alles.« Sie streckte die Hand aus. »Gib mir mein Handy zurück!«
»Ach ja.« Börnsen kicherte. »Nur dumm, dass der Alte deinen Besuch nicht überlebt hat.«
»Damit habe ich nichts zu tun«, krächzte Julia. »Und nun geh bitte! Sonst …«
»Sonst was?«, unterbrach er sie. »Willst du mich aus dem Fenster werfen?« Die Vorstellung schien ihn zu belustigen. »Oder abstechen? Mit einem Küchenmesser vielleicht?«
»Ich will, dass du gehst. Und nie wieder hier auftauchst. Das ist alles.«
Börnsens Blick wanderte erneut über ihren Körper. »Schade eigentlich. Aber wenn du nicht willst … Auf so was habe ich keinen Bock mehr. Wir bleiben in Kontakt.« Er legte das Mobiltelefon ab und packte ihre Oberarme. »Dir ist hoffentlich klar, dass diese Begegnung unter uns bleiben muss. Du hast mich nicht gesehen. Ich werde offiziell erst in Cuxhaven ankommen, wenn der Unfall des Alten ein paar Tage zurückliegt.«
»Unfall?«, flüsterte Julia. »Das war kein Unfall. Da hat jemand nachgeholfen. Warst du das?«
Er ließ ihren Arm frei. »So wie es aussieht, gibt es nur eine Person, die für den Absturz verantwortlich sein kann. Das bist du. Wahrscheinlich können sie es dir nicht nachweisen, dann verlaufen die Ermittlungen im Sande. Auch gut.«
Er wandte sich um und öffnete die Wohnungstür. Dann drehte er sich noch einmal zu ihr und deutete mit ausgestrecktem Arm auf sie. »Du hast mich nicht gesehen. Vergiss das nicht! Sonst kriegst du Probleme.«
Julia lauschte auf die sich im Treppenhaus entfernenden Schritte. Ihr Herz raste, ihr Magen rebellierte und ihr Kopf dröhnte, während sie die schmerzende Stelle am Oberarm rieb.
Kapitel 4
Es kam nicht oft vor, dass Marie Janssen von allein aufwachte. Wenn der Wecker sie nicht aus dem Schlaf riss, war es Nele, die an ihrem Bett stand und sie am Ärmel zupfte. Es war ihr nicht gelungen, ihrer Tochter beizubringen, sich zuerst bei ihrem Vater bemerkbar zu machen. Felix schlief gewöhnlich tief und fest, wenn es für sie Zeit wurde, aufzustehen. Sie gönnte ihm den Schlaf, denn er hatte oft am Abend Termine. Wenn er über Sitzungen kommunaler Gremien oder Parteien berichten musste, konnte es Mitternacht werden.
Doch heute war das Bett neben Marie leer. Das Fenster des Schlafzimmers stand offen, draußen zwitscherten die Vögel und der blaue Himmel versprach einen schönen Tag. Aus dem Erdgeschoss drangen vertraute Geräusche. Offenbar bereitete Felix das Frühstück vor und Nele erzählte dazu Geschichten. Sie warf einen Blick auf den Radiowecker und erschrak. Die Ziffern zeigten späten Vormittag an. Doch dann wurde ihr bewusst, dass sie heute frei hatte, endlich ein paar Überstunden ausgleichen konnte. Ihre Tochter musste nicht in den Kindergarten, Felix hatte seinen freien Tag, er musste nicht in die Redaktion und sie nicht zum Dienst ins Kommissariat. Voller Vorfreude auf einen entspannten Tag schwang sie sich aus dem Bett.
Der erste Blick in den Spiegel war nicht sonderlich erhebend. Noch ließ sich mit Pflege und Kosmetik ein akzeptables Ergebnis erzielen, aber die Anzeichen alternden Bindegewebes waren nicht zu übersehen. Kritisch beäugte sie die Fältchen an Augen und Mund. Manchmal tauchten über Nacht neue Linien auf. Zum Glück war das heute nicht der Fall. Aber aufzuhalten waren sie nicht. Während sie mit Routine ihre Morgentoilette erledigte, dachte sie daran, dass sie nur noch zwei Jahre bis zu ihrem vierzigsten Geburtstag hatte. Dann würde sie unweigerlich in den Bereich der Lebensmitte vorrücken.
Unwillig schüttelte sie den Kopf, verbannte die unerfreulichen Gedanken und konzentrierte sich auf die Frage, wie sie den Tag mit Mann und Tochter verbringen würde. Nele würde wahrscheinlich zum Strand wollen. Und Felix? Was wäre ihm lieber? Meer oder Garten? Sie selbst war hin- und hergerissen. Heiße Sommertage waren selten, die Gelegenheit, einen ganzen Tag am Sandstrand in Altenbruch oder Döse, Duhnen oder Sahlenburg zu verbringen, ebenfalls. Also sollten sie die Chance nutzen. Andererseits war Hochsaison. Zu den Urlaubern kamen Tagesgäste, deren Autos die Straßen und Parkplätze verstopften und die alle Strände bevölkerten. Ruhiger und entspannter wäre es, zu Hause in der Freiherr-vom-Stein-Straße zu bleiben. Nele hätte ihr Planschbecken im Garten, sie und Felix könnten das Frühstück zu einem Brunch ausdehnen, später im Schatten der Bäume einen kühlen Wein genießen. Eine verlockende Vorstellung.
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