Katharina lenkte sie ab. »Komm mit!« Sie griff nach Julias Hand. »Wir schauen uns drinnen um.«
Die Kajüte war geräumiger, als Julia sie sich vorgestellt hatte. Es gab eine großzügige Sitzgruppe mit Tisch, einen Küchenbereich, eine Dusche mit Toilette und drei Schlafkammern mit jeweils zwei Kojen. »Nicht schlecht«, strahlte Katharina. »Oder?«
Julia nickte. »Super! Hätte nicht gedacht, dass hier so viel Platz ist.« Sie sah sich um. »Wo schlafen wir?«
Kathi hob die Schultern. »Du kannst dir eure Kojen aussuchen. Erik und ich nehmen dann die anderen.«
»Ich soll mit Benny …?«
»Warum nicht?« Kathi machte große Augen. »Oder habt ihr noch nie …«
»Wir sind noch nicht lange zusammen. Also, auch nicht so richtig. Mehr so freundschaftlich. Ich weiß es noch nicht. Vielleicht ergibt sich noch was. Aber hier … Ich meine, es ist doch … ziemlich … nah beieinander.« Julia deutete auf die Trennwand zwischen den Kammern. »Man hört bestimmt … jeden Ton.«
»Klar.« Katharina kicherte. »Aber wir müssen ja nicht gleichzeitig …« Sie setzte eine verschwörerische Miene auf und senkte die Stimme. »Es kann aber auch … ziemlich geil sein. Erik und ich waren schon mal mit Freunden hier. Wir hatten schon ein bisschen gefeiert. Und dann … Also, ich fand’s krass.« Sie schob eine CD in die Kompaktanlage.
»Ich weiß ja nicht …« Julia hob die Schultern. »Ich glaube, ich nehme lieber eine eigene Kabine. Später sehen wir, was sich ergibt.« Sie deutete auf die Schrankfächer. »Jetzt räume ich erst mal meine Sachen ein.«
Während sie zu den Klängen von Quit playin’ games with my heart mit den Backstreet Boys Kleidung und Kosmetika verstaute, tauschte sie mit Kati Erinnerungen an Helgoland aus. »Weißt du noch – die Typen in der Jugendherberge? Die aus Frankfurt? Die haben so komisch geredet, dass ich sie erst gar nicht verstanden habe. Aber der eine war voll süß. Sah aus wie Mark Owen von Take That. Ich glaube, der hieß Michael. Oder Markus? Matthias? Ich weiß nur noch, dass ich total verknallt war.«
»Meiner hieß Philipp. Der war auch ziemlich cool. Wir haben uns sogar noch geschrieben. Aber nicht lange …«
Irgendwann erschien das Gesicht von Erik am Eingang. »Wollt ihr nicht raufkommen? Wir legen gleich ab.«
An Deck drückte der Skipper jedem seiner Mitsegler eine Dose Bier in der Hand. »Erst mal stoßen wir an. Dann geht’s los.«
Wenig später startete er den Motor. Gemächlich kam die Yacht in Bewegung. Nachdem sie den Hafen hinter sich gelassen hatten, setzten Erik und Benjamin die Segel. Die Frauen legten sich auf dem Deck in die Sonne und genossen Wärme und Wind. Rasch nahm die Seeteufel Fahrt auf und pflügte geräuschvoll durch die Wellen. Überrascht registrierte Julia das Gefühl von Leichtigkeit und Freiheit, das sich in ihr ausbreitete. Die Bewegungen des Bootes machten ihr nichts aus, die schnelle Fahrt durch die nur mäßig aufgewühlte Nordsee gefiel ihr, die grüne schleswig-holsteinische Küste gab einen malerischen Hintergrund ab. Davor waren Wasserfahrzeuge unterschiedlichster Art und Größe zu sehen. Neben den gewaltigen Containerschiffen zogen kleinere Frachter, Fähren, Motoryachten und Segelboote ihre Bahn. Sie bereute nicht, sich auf die Fahrt mit den Freunden eingelassen zu haben.
Erst zwei Stunden später, als Benny das Ruder übernommen hatte und Erik nach Katharina rief, bekam das euphorische Gefühl einen Dämpfer. »Komm nach unten, wir machen einen Kojentest.« Dazu machte er eine anzügliche Handbewegung und lachte.
Julia suchte Benjamins Blick, doch der schien sich auf seine Aufgabe als Steuermann zu konzentrieren, die Äußerung seines Freundes hatte er anscheinend nicht mitbekommen.
Katharina erhob sich, grinste und warf ihr einen Blick zu. »Ich glaube, Erik und ich sind auf einem guten Weg.« Sie kletterte nach hinten und verschwand im Niedergang zur Kabine.
Knatternde Segel und die tosende Bugwelle übertönten die Geräusche aus dem Inneren des Bootes. Nur einmal drang Kathis Schrei an Julias Ohr.
2019
Der Tag ohne ihre Tochter gab Julia Gelegenheit, durch Geschäfte zu bummeln, für die sie sonst keine Zeit oder keinen Nerv hatte, um Pullover und Schuhe für den kommenden Herbst anzuprobieren. Die Suche nach passenden Kleidungsstücken bot zugleich eine willkommene Ablenkung von Erinnerungen an die Ereignisse vor siebzehn Jahren.
Am frühen Abend – sie hatte gerade ein neues Outfit anprobiert – klingelte es an der Wohnungstür. Da sie niemanden erwartete, warf sie einen genauen Blick durch den Spion. Vor der Tür stand eine der Frauen, die sie hinter dem Tresen in der Rezeption des Hotels Alte Liebe gesehen hatte. Volles schwarzes Haar und blutrote Lippen bildeten einen auffälligen Kontrast zur hellen Haut. Was mochte sie von ihr wollen? Julia öffnete. »Hallo. Was führt Sie zu mir?«
»Entschuldigen Sie die Störung! Herr Börnsen schickt mich. Er würde gern noch einmal mit Ihnen sprechen. Würde es Ihnen morgen passen? Um zehn Uhr?« Sie zog eine Chipkarte aus der Tasche und reichte sie Julia. »Damit können Sie den Lift benutzen und direkt in die Penthouse-Wohnung fahren. Wenn Ihnen der Termin nicht zusagt, sollten wir jetzt einen anderen Tag oder eine andere Uhrzeit ausmachen. Herr Börnsen bittet Sie, ihn nicht anzurufen.«
Julia starrte abwechselnd auf die Karte in ihrer Hand und auf die Besucherin. »Okay.«, murmelte sie schließlich. »Vielen Dank! Das war alles?«
»Ja, Frau Jacobs.« Die Hotelangestellte nickte. »Auf Wiedersehen. Einen schönen Abend noch.« Sie wandte sich um und eilte die Stufen hinab. Julia sah ihr nach, lauschte auf das Geräusch ihrer Absätze und kehrte erst in die Wohnung zurück, nachdem unten die Haustür ins Schloss gefallen war.
In der Küche legte Julia die Karte vor sich auf der Tischplatte ab und betrachtete sie. Morgen Vormittag um zehn also. Was mochte Ralf Börnsens Sinneswandel bewirkt haben? Hatte er mit seiner Frau über Julias Besuch gesprochen? Eine Mutter würde sich an die geringste Hoffnung klammern, ihr Kind wiederzusehen, und nicht so ablehnend reagieren. Oder waren dem Hotelier doch Zweifel gekommen? Vielleicht würde sie morgen die Antwort erfahren. Nur die Frage, warum Eriks Eltern nichts davon wussten, dass ihr Sohn nach Cuxhaven zurückgekehrt war, würde auch sie nicht beantworten können.
Kapitel 3
In dieser Nacht schlief Julia unruhig. Wirre Traumfetzen mit Bildern aus der Vergangenheit tauchten auf und verschwanden wieder. Einmal schreckte sie hoch, weil sie jemanden in ihrer Wohnung zu spüren glaubte. Zweimal stand sie auf, schaltete Licht ein, ging durch alle Räume, knipste die Beleuchtung wieder aus und kehrte ins Schlafzimmer zurück.
Viel zu früh war sie am Morgen wach. Innere Unruhe trieb sie aus dem Bett. Auf dem Küchentisch lag noch die Karte, die Börnsens Angestellte gebracht hatte. Julia stutzte. Hatte sie die nicht in der Mitte abgelegt? Jetzt lag die Chipkarte an der Tischkante. Konnte ein Luftzug die Veränderung bewirkt haben? Nein, das Küchenfenster war geschlossen. Sie selbst musste sie verschoben haben. Offenbar hatte sie die Karte noch einmal in die Hand genommen, als sie in der Nacht durch die Wohnung gewandert war.
Sie machte sich Frühstück, ließ Toast und Müsli dann aber stehen, trank nur Kaffee. Eine Stunde vor dem verabredeten Termin im Hotel Alte Liebe verließ sie das Haus. In der Stadt waren zu dieser Zeit nur wenige Menschen unterwegs, der sonntägliche Straßenverkehr beschränkte sich auf eine Handvoll Autos. Vielleicht die Nachwirkung des Sommerabends am Meer. Auch vor dem Hotel war es ruhig. Keine an- oder abreisenden Gäste, keine dienstbeflissenen Angestellten, kein Taxi, kein sonstiges Fahrzeug. Sie richtete den Blick nach oben. In den Scheiben des Penthouses glitzerte die Morgensonne. Zur Meerseite und nach Westen gab es offenbar eine Dachterrasse, die noch im Schatten lag, nur die weißen Gitterstäbe des Geländers leuchteten im Sonnenlicht. Mehr war nicht zu erkennen.
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