Fast eine halbe Stunde ging sie vor dem Haus auf und ab. Eine Minute vor zehn betrat sie das Hotel, durchquerte die Halle und steuerte auf die Aufzüge zu. Sie erkannte die Angestellte, die ihr Börnsens Nachricht überbracht hatte, hinter dem Empfangstresen. Sie sah auf und nickte ihr zu.
Der Aufzug brachte sie ohne Unterbrechung zur obersten Etage. Automatisch öffneten sich die Türen und gaben den Blick auf die Penthouse-Wohnung frei. Sie erschien Julia noch größer, als sie sich vorgestellt hatte. Am überdachten Eingang befand sich ein Messingschild mit der Aufschrift Privat. Die Tür aus satiniertem Glas stand offen. Zögernd trat sie näher, stieß auf eine weitere Tür. Auch sie war weit geöffnet. »Hallo!«, rief sie. »Hallo? Ist jemand da? Ich bin Julia Jacobs und möchte …« Sie brach ab, denn niemand war zu sehen. Vor ihr breitete sich der Wohnraum aus, dessen gegenüberliegende Front fast vollständig aus Glas bestand. Die Schiebetür zur Dachterrasse war offen. Draußen standen zwei weiß-blaue Strandkörbe. Wartete Börnsen dort auf sie? »Hallo?«, wiederholte sie, durchquerte den Raum und sah sich um. Hier schien niemand zu sein. Als sie sich schließlich umwandte, um die Wohnung zu verlassen, vernahm sie einen spitzen Schrei. Er schien von unten, von der Promenade, zur kommen. Sekunden später setzten Hilferufe ein, dann Hundegebell. Sie hastete zum Geländer und beugte sich hinüber.
Tief unter ihr, auf dem Pflaster des Weges lag eine reglose männliche Gestalt. Ein Mann zerrte einen Hund zurück, der sich auf den Liegenden stürzen wollte. Eine Frau hielt ein Mobiltelefon ans Ohr und gestikulierte mit der freien Hand. Vom Deich näherte sich ein Jogger, auf der anderen Seite ein älteres Paar.
Erschrocken zuckte Julia zurück. Ihr Herz raste. Hatte sie gerade Ralf Börnsen dort unten liegen sehen? War er über das Geländer gestürzt? Die Ungewissheit zwang sie zu einem weiteren Blick. Vorsichtig lehnte sie sich erneut über die Brüstung. Obwohl sich jetzt mehrere Personen über den leblosen Mann beugten, erkannte sie ihn. War der Hotelier vom Dach gesprungen, um seinem Leben ein Ende zu setzen?
Hastig verließ sie die Penthouse-Wohnung. Der Fahrstuhl war noch da. Sie drückte die Taste fürs Erdgeschoss. Viel zu langsam schlossen sich die Türen der Kabine, viel zu langsam setzte sich der Lift in Bewegung. Julia schwitzte. In Gedanken sah sie den fragenden Blick der Hotelangestellten am Empfang voraus, entschied sich für einen anderen Weg, drückte den Knopf für die erste Etage, stieg aus, nahm die Treppe bis ins Kellergeschoss. Hier fand sie einen Ausgang, der zur Garage führte. Leuchtstoffröhren flackerten, flammten auf, als sie an den geparkten Autos vorbeilief. Irgendwo klappte eine Wagentür, im nächsten Moment wurde ein Motor gestartet, Scheinwerfer blendeten auf. Julia duckte sich unwillkürlich. Als sich eins der die Tore öffnete und der Wagen die Garage verließ, hastete Julia ins Freie. Sie widerstand der Versuchung, das Hotelgebäude zu umrunden, um nach Börnsen zu sehen. Es gab keinen Zweifel, dass er es war, der von der Dachterrasse gestürzt war. Konnte man einen solchen Sturz überleben? Wohl kaum. Mit großer Wahrscheinlichkeit war Ralf Börnsen ums Leben gekommen. In dem Augenblick, in dem sie ihn aufsuchen wollte. Warum hatte er sich mit ihr verabredet, wenn er sich umbringen wollte? War er versehentlich über das Geländer gestürzt? Wohl kaum. Jemand musste ihn darüber gestoßen haben. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Konnte man sie verdächtigen, den Hotelier getötet zu haben?
Julia beschleunigte ihre Schritte, getrieben von dem Bedürfnis, den Ort des schrecklichen Ereignisses so schnell wie möglich weit hinter sich zu bringen. Fast wäre sie beim Überqueren des Strichwegs vor ein Auto gelaufen. Schrilles Hupen und kreischende Reifen hatten den Aufprall in letzter Sekunde verhindert. Vor ihrem inneren Auge spielte sich immer wieder dieselbe schreckliche Szene ab. Börnsen stand an der Begrenzung seiner Dachterrasse. Ein kräftiger Stoß ließ ihn über das Geländer kippen. Hilflos ruderten seine Arme in der Luft, dann verschwand er nach unten. Sekunden später ein dumpfer Aufschlag. Wer konnte ihn gestoßen haben? In ihrer Vorstellung war es erst ein gesichtsloser Mann, dann eine Frau. Die Frau war sie. Aber ich habe ihn nicht gestoßen, sagte sie sich. Oder doch? Bin ich verrückt geworden? Hat mich die Begegnung mit Erik um den Verstand gebracht? Nein, ich habe seinen Vater nicht getötet, ich wollte ihn nur besuchen, mit ihm reden, ihm versichern, dass ich seinen Sohn gesehen habe. Ich habe ihn doch gesehen. Oder bilde ich mir das nur ein?
Dunkel erinnerte sich Julia an eine Fernsehsendung, in der es um Wahrnehmungsfehler ging. Das Gehirn, hatte sie erfahren, spielt uns manchmal einen Streich. Wir sehen etwas, das objektiv nicht existiert, oder nehmen real vorhandene Dinge nicht wahr. War sie Opfer dieser Fehlfunktion geworden? Sie blieb stehen, schloss die Augen und rief sich das Bild vom vergangenen Nachmittag ins Gedächtnis – Erik am Imbissstand –, blendete alle Nebensächlichkeiten aus, konzentrierte sich auf das Gesicht. Jemand rempelte sie an. »Entschuldigung«, murmelte ein Passant. »Sie stehen hier aber auch etwas ungünstig.«
Julia zuckte zusammen, riss die Augen auf und eilte weiter. Erneut beschleunigte sich ihr Puls. Denn das Bild, das ihr gerade erschienen war, hatte sich verändert. Es war Erik, aber ohne Bart. Er hielt keine Bratwurst in der Hand, sondern zwei kleine, in Papier eingewickelte Flaschen.
2002
»Gegen Seekrankheit.« Erik war aufs Vorschiff gekommen, wo Julia im Schatten des Großsegels saß. Er ließ sich neben ihr nieder, hielt zwei Fläschchen Wattenläuper hoch und grinste. »Der Wellengang hält sich zwar in Grenzen. Aber Vorbeugen ist besser als heilen.«
»Danke!« Julia schüttelte den Kopf. »Ich brauche nichts. Es geht mir gut. Hätte nicht gedacht, dass mir der Segeltörn so gut bekommt.«
»Umso besser.« Erik öffnete eine der Flaschen, drückte sie ihr in die Hand und deutete mit dem Daumen nach hinten. »Benny hat das Ruder übernommen. Wir können uns ein bisschen entspannen.«
Skeptisch betrachtete Julia die Flasche in ihrer Hand. »Was ist mit Katharina?«
Erik winkte ab. »Die muss sich ein bisschen herrichten. Wir hatten gerade einen stürmischen Ritt über die Nordsee. Wenn du verstehst, was ich meine.«
Julia verzog das Gesicht. »War ja nicht zu überhören.«
Sein Grinsen wurde breiter, der Blick lauernd. »Und?«
»Was und? Sollen wir applaudieren?«
»Gute Idee.« Erik kicherte, öffnete die zweite Flasche und hob sie hoch. »Prost! Auf die Liebe!« Er ließ den Inhalt in den weit geöffneten Rachen laufen und warf sie im hohen Bogen über Bord. Dann deutete er auf die Flasche in Julias Hand. »Was ist? Willst du nicht? Ist gut für den Magen. Und lecker. Solltest du dir nicht entgehen lassen.«
Mit gemischten Gefühlen betrachtete Julia den Wattenläuper. Sie hatte nichts gegen den Magenbitter, wollte auch kein Spielverderber sein, hatte aber Hemmungen, sich auf Eriks Drängen einzulassen. Etwas störte sie an seinem Verhalten. Sie hielt sich nicht für prüde, empfand aber angesichts seines Tonfalls ein leichtes Unbehagen. »Ich warte auf Kathi«, erklärte sie schließlich.
»Okay.« Erik zuckte mit den Schultern und stand auf. »Dann gehe ich jetzt mal für kleine Skipper.«
Doch statt zum Kabineneingang zu gehen, kletterte er ein Stück nach achtern, lehnte sich mit der Schulter gegen die Wanten und begann, an seiner Hose zu nesteln. Mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu beobachtete Julia aus den Augenwinkeln, wie der Strahl in der Sonne glitzerte.
Kurz nachdem Erik weiter in Richtung Bootsheck verschwunden war, tauchte Katharina auf. Sie ließ sich neben ihrer Freundin nieder und deutete auf die Flasche in Julias Hand. »War Erik hier? Was wollte er?«
Читать дальше