Inzwischen zeigte der Spiegel ein zufriedenstellendes Ergebnis ihrer kosmetischen Bemühungen, sodass sie gut gelaunt das Bad verließ. Auf der Treppe wehte ihr der Duft von Kaffee und frischen Brötchen entgegen, und als sie auf die Terrasse trat, fand sie neben dem gedeckten Tisch zwei strahlende Gesichter vor, die ihr erwartungsvoll entgegenblickten.
»Was für eine schöne Überraschung!«, rief sie, umarmte Mann und Tochter und ließ sich auf ihrem Platz nieder.
»Alles fertig«, krähte Nele. »Du musst gar nichts machen, Mama.«
»Das habt ihr aber toll hingekriegt«, lobte Marie. »Kaffee gibt’s auch schon?«
»Selbstverständlich.« Felix schenkte ihr ein und deutete zum Himmel. »Heute bleibt es sonnig und warm. Bis dreißig Grad werden erwartet. Wir können den ganzen Tag draußen verbringen.«
Marie lehnte sich zurück, schloss die Augen und schnupperte an ihrem Kaffee. Ich glaube, dachte sie, ich möchte heute hierbleiben. Ich muss nur Felix davon überzeugen, dass er das auch möchte. Dann kann ich die Entscheidung ihm überlassen. »Du hast Recht«, murmelte sie. »Ich habe richtig guten Appetit.«
Eine halbe Stunde später warf sie den ersten Köder aus. »Was für ein herrlicher Tag! Ich könnte hier noch stundenlang sitzen und die Ruhe genießen. Vielleicht gönnen wir uns später ein Glas Wein. Oder ein Eis. Oder beides?«
»Ich will Stracciatella«, rief Nele.
»Hier will keiner was«, korrigierte Felix. »Wer etwas möchte, sagt außerdem bitte.«
»Ich möchte bitte Stracciatella-Eis«, erklärte seine Tochter rasch, strahlte ihren Vater aus großen blauen Augen an und fügte hinzu. »Bitte, bitte, Papa.«
Felix lachte. »Das klingt viel schöner. Also gut. Machen wir uns einen faulen Tag!« Er wandte sich an Nele. »Und für dich stellen wir das Planschbecken auf.«
In das zustimmende Jauchzen seiner Tochter mischte sich die Titelmelodie einer alten Krimiserie. Dazu vibrierte Maries Smartphone auf der Tischplatte. »Ist das nicht aus Derrick?«, fragte Felix verblüfft.
Marie nickte griff nach dem Telefon. »Mein Kollege Jan Feddersen. Warum der heute anruft …« Sie zuckte mit den Schultern und nahm das Gespräch an. »Hallo, Jan, hast du an diesem schönen Sommertag nichts Besseres zu tun, als deine Kollegin zu behelligen?«
»Es tut mir wirklich leid, Marie«, antwortete Jan. »Ich weiß, dass du heute einen freien Tag hast. Will dich nur kurz über einen Todesfall mit unklarer Ursache informieren. Du musst nicht kommen. Ich mache das heute auch gern mit den Kollegen von der Tatortgruppe. Aber es ist unser Fall. Und wie mir einer von ihnen geflüstert hat, könnte darin eine gewisse Brisanz stecken. Wieso, hat er nicht gesagt. Das Opfer ist ein gewisser … Ralf Börnsen, Inhaber des Hotels Alte Liebe.«
»Ach du Scheiße«, entfuhr es Marie. Entschuldigend sah sie Felix an.
»Scheiße sagt man nicht«, trompetete Nele.
Marie nickte ihr zu und stand auf. Während sie ins Haus eilte, erklärte sie Jan den Hintergrund. »Die Frau unseres Staatsanwalts ist eine geborene Börnsen. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, der Hotelier ist … war der Schwager von Krebsfänger. Da wird Kriminalrat Lütjen ordentlich Druck machen. Was ist denn überhaupt passiert?«
»Der Mann ist vom Dach seines Hotels auf die Straße gestürzt. War sofort tot. Wenn er nicht von sich aus gesprungen ist, muss jemand nachgeholfen haben. Die Kollegen von der Spurensicherung sind schon bei der Arbeit.«
»Okay.« Marie atmete tief durch. »Ich komme.«
»Musst du wirklich nicht«, wiederholte Jan. »Aber ich würde mich natürlich freuen. Der Tatort ist …«
»Ich weiß«, unterbrach Marie ihren Kollegen. »In dem Hotel hatten wir schon zu tun. In zwanzig Minuten bin ich da.«
»Super! Bis gleich!« Jan Feddersen klang erleichtert. Marie lächelte unwillkürlich. Ihr Kollege war der typische Kerl wie ein Baum und trat manchmal wie ein Macho auf. Als er vor drei Jahren die Nachfolge von Maries langjährigem Kollegen Konrad Röverkamp angetreten hatte, war sie dem Neuen gegenüber skeptisch gewesen. Inzwischen hatte sie ihn schätzen gelernt, denn im Grunde war er ein warmherziger Mensch, der anfängliche Unsicherheiten hinter großspurigem Auftreten zu verbergen gesucht hatte.
»Es tut mir leid«, sagte sie, als sie auf die Terrasse zurückkehrte. »Wir haben einen Fall, um den ich mich kümmern muss.«
Mit großen Augen sah Felix sie an. »An deinem freien Tag?«
»Ich will nur sehen, was passiert ist.«
»Du willst ins Kommissariat?«
Marie schüttelte den Kopf. »Zum Hotel Alte Liebe. Da ist …« Sie brach ab und wandte sich an ihre Tochter. »Um dein Eis kümmert sich Papa. Ich muss leider weg.«
»Das macht nichts«, verkündete Nele gutmütig. »Hauptsache Stracciatella.«
»Also gut.« Marie wandte sich zum Gehen. »Macht es euch nett! Ich ziehe mich um und nehme den Roller. In zwei bis drei Stunden bin ich wieder zurück.«
Ihr Mann folgte ihr ins Haus. »Was ist passiert?«, flüsterte er, als sie außer Hörweite ihrer Tochter waren.
»Der Chef des Hotels ist anscheinend vom Dach des Hauses gestürzt. Wir müssen klären, ob Fremdeinwirkung ausgeschlossen werden kann.«
Felix war elektrisiert. »Ralf Börnsen? Umgebracht? Krass!« Er warf einen Blick zur Terrasse. »Was für eine Geschichte! Da muss ich hin.«
»An deinem freien Tag?«, fragte Marie ironisch. »Mit deiner Tochter auf dem Rücksitz zum Tatort? Wobei wir ja noch gar nicht wissen, ob es sich um einen handelt. Ich glaube, es geht los. Du bleibst schön hier. Morgen kannst du dich mit Anne Lüken in Verbindung setzen. Dann wissen wir auch schon mehr.«
»Wenn eure Pressesprecherin von den Ermittlungen berichtet, erfahren alle Medien gleichzeitig davon. Ich möchte aber die Geschichte morgen schon im Blatt haben.«
»Meinetwegen kannst du eine Kollegin oder einen Kollegen anrufen und zum Hotel schicken. Aber bitte frühestens in drei Stunden. Ich möchte nicht, dass uns Zeitungsreporter vor den Füßen rumlaufen.«
»Ich würde aber lieber selber … Vielleicht kann ich Nele zu deinen Eltern nach Otterndorf …«
Marie seufzte. »Dann musst du sie aber vorher anrufen.«
»Das mache ich natürlich.« Felix küsste Marie auf die Wange. »Und du – pass bitte gut auf dich auf! In den Kurgebieten ist zurzeit viel Verkehr.« Er eilte zurück auf die Terrasse. »Nele«, rief er, »was hältst du davon, wenn wir Oma und Opa besuchen?«
*
Marie war froh, mit dem Motorroller fahren zu können. Sie genoss den Fahrtwind, fuhr an den Fahrzeugen vorbei, die im Stau standen, und kam ohne Verzögerung bis zur Konrad-Adenauer-Allee. Hier gab es, wie so oft, Chaos vor der Ampel zur Deichstraße, weil ortsunkundige Autofahrer sich falsch eingeordnet hatten, in letzter Sekunde die Spur wechseln wollten und damit den Verkehrsfluss blockierten. Sie wich kurzerhand über den leeren Fußweg aus und erreichte rasch die Poststraße. Hier ließ der Verkehr etwas nach.
Als sie die Lettow-Vorbeck-Straße passierte, ging ihr der Streit um die Straßennamen in Cuxhavens Afrikaviertel durch den Kopf. Die Namensgeber Lettow-Vorbeck, Leutwein, Wißmann und Lüderitz erinnerten an ein dunkles Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte während der Kaiserzeit. In anderen Städten waren Straßen deswegen bereits umbenannt worden. Einige Cuxhavener hatten dies ebenfalls gefordert, andere sich für die Beibehaltung ausgesprochen.
Vor dem Hotel Alte Liebe hatten die Kollegen der Tatortgruppe eine Absperrung errichtet und ein Zelt aufgebaut. Als Marie darauf zuhielt, bedeutete ihr ein uniformierter Kollege mit heftigen Armbewegungen, den Bereich zu umfahren. Sie nickte ihm freundlich zu, ließ ihr Zweirad direkt vor ihm ausrollen, stellte es ab und nahm den Motorradhelm vom Kopf. Die verärgerte Miene des Uniformierten wandelte sich zu einem freundlichen Ausdruck mit einer Spur Anerkennung. »Moin, Frau Kommissarin. Ich habe Sie gar nicht erkannt.«
Читать дальше