»Mit mir anstoßen. Ich sollte Magenbitter gegen Seekrankheit trinken. Aber ich bin völlig okay. Außerdem wollte ich auf dich warten.« Julia sah Katharina an. »Hast du keinen? – Willst du meinen?«
Katharina schüttelte den Kopf und strich mit der flachen Hand über ihren Hals. »Danke, mir ist nicht danach. Ich glaube, ich gehe wieder runter und leg mich in die Koje.«
»War der stürmische Ritt über die Nordsee so anstrengend?«
»Was meinst du?«
»Eriks Worte«, erklärte Julia lächelnd. »Außerdem wart ihr nicht zu überhören. Trotz der Windgeräusche.«
»Ach so.« Kathi hob die Schultern. »Sorry. Ich wollte das nicht. Aber …« Sie verstummte und rieb erneut ihren Hals.
Julia versuchte, in ihrer Miene zu lesen. »Aber?«
»Es war … irgendwie … anders ... Als ob …« Auch dieser Satz blieb unvollendet.
Erneut hakte Julia nach. »Als ob?«
»Ach, ich weiß nicht. Vielleicht bilde ich mir das auch ein.« Sie streckte die Hand aus. »Jetzt nehme ich dein Angebot doch an.«
Julia reichte ihr die Flasche. Als ihre Freundin den Kopf hob, um den braunen Kräuterlikör in den Rachen laufen zu lassen, zeigte sich unter der Kehle ein dunkelroter Streifen.
»Was ist mit deinem Hals?«
Kathis Hand zuckte nach oben. »Nichts. Ich hab mich vorhin geschrammt. Aus Versehen.« Sie schüttelte die letzten Tropfen aus der Flasche, warf sie über Bord und stand auf. »Ich hau mich jetzt noch ein bisschen in die Koje. Damit ich fit bin für Helgoland.« Mit einer Kusshand verabschiedete sie sich und balancierte an der Reling entlang Richtung Kabine.
Julia erwog, ihr zu folgen, verwarf den Gedanken aber. Mit Kathi stimmte etwas nicht. Und es hing mit Erik zusammen. Aber was, würde sie jetzt aus ihrer Freundin nicht herausbekommen. Vielleicht später. Ja, irgendwann würde sie sich ihr anvertrauen. Ganz sicher.
Der Fahrtwind war kühler geworden. Julia rutschte aus dem Schatten des Segels in die Sonne, lehnte sich gegen den Mast, schloss die Augen und genoss die Wärme auf der Haut. Wie lange sie wohl noch bis zur Insel brauchen würden? Die Überfahrt sollte sechs Stunden dauern. Nach Julias Gefühl hatten sie die Hälfte der Strecke bereits hinter sich gebracht.
Plötzlich fiel ein Schatten auf ihr Gesicht. »Hast du dich gut eingecremt?«, fragte Benny, der neben ihr hockte und sie kritisch musterte. Julia rieb sich die Augen. War sie eingedöst? »Wie spät ist es?«
Benny hielt ihr seine Armbanduhr vor die Nase. »Helgoland ist schon in Sicht. Aber wir brauchen noch mindestens eine Stunde.«
Mit einer Hand beschattete Julia ihre Augen. Obwohl ein schwacher Dunst über dem Wasser lag, konnte sie das charakteristische Profil der Insel erkennen. »Noch eine Stunde?«
»Mindestens«, wiederholte Benny und küsste sie. »Eher anderthalb. Was hältst du davon, wenn wir vorher noch mal abtauchen?« Er grinste. »Natürlich nicht im Wasser. Ich meine … in der Koje.« Mit einer Kopfbewegung deutete er nach hinten. »Erik hat das Ruder übernommen. Wir können jetzt auf Sicht fahren, es gibt weiter nichts zu tun. Erst wieder, wenn wir in den Hafen einlaufen.«
»Wo ist Kathi? Noch in ihrer Kabine?«
»Ja, ich denke schon.«
»Sie wollte sich ausruhen. Wir sollten sie nicht stören, indem wir nebenan … Man hört alles.«
Benny zuckte mit den Schultern und grinste. »Klar. Aber mir macht das nichts. Und die beiden haben ja vorhin auch ganz schön Krach gemacht.«
»Trotzdem. Ich möchte ihr das nicht zumuten. Ich glaube, sie ist in dem Punkt gerade etwas empfindlich.«
»Das kapiere ich nicht.«
Julia seufzte. »Ist auch schwer zu verstehen. Ich weiß selbst nicht genau, was mit ihr los ist.« Sie schmiegte sich an Benny. »Heute Abend im Hafen, okay?«
»Okay.«
2019
Entgegen ihrer Gewohnheit verriegelte Julia die Tür hinter sich, nachdem sie ihre Wohnung erreicht hatte. Sie wusste, es würde nichts an ihrer Situation ändern, aber es gab ihr das Gefühl, von niemandem behelligt werden zu können. In Ruhe nachdenken wollte sie. Am Küchentisch ließ sie sich nieder, stand wieder auf, öffnete den Kühlschrank, nahm eine Flasche Mineralwasser heraus, griff nach einem Glas und setzte sich erneut. Sie schenkte sich ein, und während sie trank, wanderten ihre Gedanken erneut in die Vergangenheit.
Damals hatten sie kein Wasser getrunken. Wenn sie mit Kathi, Erik und Benny zusammen gewesen war, hatte es immer Bier gegeben. Und Wattenläuper. Oder Küstennebel. Oder Berentzen Apfelkorn. Die Vorräte gingen nie aus, denn Erik brachte immer wieder Nachschub aus dem Hotel mit. Eigentlich waren sie immer ein bisschen benebelt gewesen. Auch bei jenem verhängnisvollen Segeltörn. Die erfolgreiche Überfahrt, das Einlaufen in den Hafen und das gelungene Anlegemanöver mussten gefeiert werden. Gut gelaunt hatten sie eine Flasche Hochprozentiges kreisen lassen. Katharinas Stimmungstief war vergessen. Erik hatte einen Tisch in der Fischerstube reserviert. Er und Katharina waren vorausgegangen, Julia und Benny in eine der Kojen gekrochen, um nachzuholen, was sie während der Überfahrt versäumt hatten. Später hatten sie sich alle zum Essen getroffen, waren durch den Ort gebummelt, hatten sich über die Touristen lustig gemacht, ohne zu bedenken, dass sie auch dazugehörten. Schließlich waren sie in der Diskothek Krebs gelandet, wo sie nach Daylight In Your Eyes von den No Angels und den wilden Rhythmen des Safri Duo mit Played-A-Live bis zum Morgengrauen getanzt hatten.
2002
Verschwitzt, aber in bester Stimmung, kehrten sie auf die Seeteufel zurück. Auf der Yacht leerten sie noch ein paar Dosen Bier und begrüßten lautstark den neuen Tag.
»Hoffentlich ist da drüben bald Ruhe!«, brüllte eine wütende Männerstimme von einem der benachbarten Boote. »Andernfalls rufe ich die Polizei.«
»Kommt, wir gehen rein!«, schlug Erik vor. »Sonst gibt’s noch Ärger.«
Drinnen legte er den Arm um Julia. »Wie wär’s, wenn wir mal tauschen?«
»Was denn tauschen?«, fragte Benny mit schwerer Zunge. »Ich hau mich jetzt in die Koje. Gute Nacht!«
Seine Begriffsstutzigkeit löste Heiterkeit aus. Katharina und Julia kicherten, Erik lachte Tränen. »Genau das meine ich, du Schnellmerker. Wir tauschen die Kojen. Kathi geht mit zu dir, Jule und ich nehmen die andere Kabine. Kleine Abwechslung. Ist gut für die Liebe.«
Benny zuckte mit den Schultern. »Macht, was ihr wollt! Ich muss mich jetzt hinlegen, sonst werde ich seekrank.« Schwerfällig wankte er zur Kabinentür.
Mit einer Kopfbewegung bedeutete Erik seiner Freundin, ihm zu folgen. »Ich glaube, Benny braucht Hilfe beim Ausziehen. Deine Chance, Kathi.«
Julia wollte sich aus Eriks Umarmung befreien, um nach Benny zu sehen, doch er hielt sie fest. »Das ist unsere Chance«, flüsterte er an ihrem Ohr und deutete auf Katharina. »Sie kümmert sich um ihn.« Tatsächlich war Kathi aufgestanden. Sie grinste, zuckte mit den Schultern und folgte Benny.
In dem Augenblick spürte Julia Eriks Lippen auf ihrem Mund und seine Hand unter dem T-Shirt. Die Berührungen lösten widersprüchliche Empfindungen aus. Der Impuls, ihn abzuwehren, wurde von Neugier und Entdeckungslust zurückgedrängt. »Komm, Seeteufelchen«, raunte er und zog sie hoch. »Wir gehen auch in die Koje.« Widerstrebend, zugleich von Erregung getrieben, folgte sie ihm in die Kabine.
2019
Julia zwang sich, den Gedankenfluss zu stoppen. Es hatte keinen Sinn, sich dunklen Erinnerungen hinzugeben; die Gegenwart war bedrohlicher. Mit dem Tod des Hoteliers hatte sie nichts zu tun. Aber die Polizei würde den Fall untersuchen und herausfinden, dass sie zum Zeitpunkt des Sturzes in Börnsens Wohnung gewesen war. Die Angestellte, die ihr am Vorabend die Chipkarte für den Aufzug gebracht hatte, würde sich an sie erinnern. »Aber ich habe ihn nicht gestoßen«, flüsterte sie. »Ich war nur im Penthouse. Da war niemand. Darum bin ich umgekehrt, habe das Hotel verlassen und bin nach Hause gegangen.« Ja, das würde sie der Polizei erklären. Vom Sturz des Hoteliers hatte sie nichts mitbekommen, folglich konnte sie gar nicht wissen, dass Börnsen ums Leben gekommen war. Niemand konnte behaupten, dass sie über die Brüstung geschaut und den Toten gesehen hatte. Niemand konnte wissen, dass sie wirklich in der Wohnung gewesen war. Sie hätte auf den Klingelknopf drücken, an der Tür warten und schließlich gegangen sein können, ohne die Wohnung betreten zu haben.
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