„Komm her, meine Süße“, lockte Rosalie mit weicher, ein- schmeichelnder Stimme.
Und tatsächlich, nach sanftem Bitten näherte sich das rot- braune Tier dem Fensterbrett und sprang behände vom Regal zum Schreibtisch, verharrte kurz auf der Gardinenstange und landete im
Himmelbett. Dort warteten die Mädchen. Nala hielt das Buch in der Hand, aber Rosalies Arme boten Platz für Fini. Das Eichhörnchen schnupperte mit seinem winzigen Näschen, der Schweif peitschte unschlüssig von rechts nach links, bevor es sich neben ihr zusam- menrollte. Vorsichtig streichelte Feuerwolf das unglaublich weiche Fell. Mit den Fingern konnte sie jeden Atemzug von Fini, ihrer neuen Freundin, fühlen. Welche Abenteuer würden sie wohl miteinander bestehen?
8
Schulbeginn
Wie im Flug vergingen die Tage, die Nala und Rosalie im Stall, im Wald und mit den Pferden verbrachten. Am Montag begann der Unterricht in ihrer neuen Schule. Natürlich waren die Freundinnen ein wenig aufgeregt, als sie im Klassenzimmer ankamen. Kurz ent- schlossen schnappten sie sich eine gemeinsame Bank, in der Fen- sterreihe. Hier konnten sie nach draußen sehen und gleichzeitig das Wetter beobachten. Das war wichtig für die Entscheidung, ob oder wo sie am Nachmittag ausreiten würden, und eine willkommene Ablenkung zum Unterricht. Die Tür wurde schwungvoll aufgerissen und ein älterer Lehrer mit Brille und Strickjacke stellte sich vor das Pult.
„Mein Name ist Oskar Krämer. Ich bin euer Schulleiter und zuständig für den Unterricht in den praktischen Fächern. Mir ist klar, dass die meisten von euch sich eine Art Kunst-Hippie-Schule wünschen, in der ihr eure Kreativität auslebt. Das Entwerfen und Zeichnen ist zwar eine Seite des zukünftigen Berufes, zuerst lernt ihr jedoch das Handwerk. Ihr müsst rechnen, planen und sorgfältig sein, sonst wird es gefährlich in der Werkstatt und am Brennofen. Wir sind stolz darauf, dass sich Schülerinnen und Schüler aus der ganzen Welt bei uns bewerben. Ihr habt es durch das Aufnahmever- fahren bis hierher geschafft. Gratulation. Im ersten Jahr hier tren- nen wir aber vor allem die Spreu vom Weizen. Verstanden?“
Ein stummes Nicken ging durch die Klasse.
„Nur weil ihr aufgenommen wurdet, könnt ihr es euch hier nicht bequem machen. Künstler oder Künstlerinnen seid ihr erst,
wenn die letzte Prüfung absolviert ist. Davor heißt es üben, üben und nochmals üben. Ihr lernt, bis eure Köpfe mehr rauchen als die Brennöfen für das Glas.“
„Das klingt überhaupt nicht lustig“, bemerkte Nala. Die beiden Freundinnen sahen sich bedrückt an.
Herr Krämers Vortrag ging sofort weiter: „Keine Angst, ich bei- ße nicht. Die Erfahrung hat uns gezeigt, dass phantasievolle Men- schen wie ihr vor allem Disziplin brauchen, um Ideen umzusetzen. Wir wollen nämlich, dass die schönen Entwürfe nicht bloß in euren Köpfen herumgeistern, sondern konkret werden. So, und jetzt die Klassenliste! Ich rufe euch einzeln auf.“
Nach ein paar Aufrufen von Mitschülern trompetete er in einem militärischen, forschen Tonfall: „Krahbichler Nathalie?“
„Hier!“, erwiderte Nala, deren offizieller Name eigentlich Na- thalie war. Ihr kleiner Bruder konnte das komplizierte Wort nicht aussprechen und kürzte es einfach ab. Nala gefiel allen gut und so blieb dieser Spitzname erhalten. „Das geht ja gut los“, dachte sie.
„Allzu freundlich scheint der Klassenlehrer nicht zu sein.“
„Ledermaier Vinzenz?“ „Ist da“, ein mit Sommersprossen über- sätes Gesicht grinste dem Lehrer keck entgegen.
„Lundström Ilvy!“, eine Schülerin mit weißblonden, raspelkur- zen Haaren hob die Hand. „Bin hier“, sagte sie mit einem süßen, nordischen Akzent.
„Puri Malini?“, las der Lehrer etwas stockend vor. „Here“, ant- wortete das hübsche, asiatisch aussehendes Mädchen unsicher.
„Die beiden sind sicher durch das internationale Programm in
die Schule gekommen“, vermutete Nala. „Ich finde es toll, dass so viele verschiedene Menschen hier sind.“
„Sonnhofer Rosalie?“ „Hier!“
Insgesamt wurden 21 Schülerinnen und Schüler aufgerufen. Anschließend folgte eine Führung durch das gesamte Gebäude. Au- ßer den Klassenräumen gab es verschiedene Werkstätten. Die Wän- de waren gepflastert mit den fantastischsten Entwürfen für Lam- pen, Gläser oder Kunstwerke in leuchtenden Farben. Beeindruckt zogen die Neuen durch die Gänge.
„Wow, die Skizzen sind super!“, fand Rosalie.
„Ich freu mich darauf, loszulegen“, sagte Nala. „Selbst wenn der Direktor uns zuerst nur Disziplin beibringen will. Ätzend.“
Feuerwolf ergänzte: „Hoffentlich ist er nicht total humorlos. Im Dorf hat er den Ruf zwar sehr streng, aber gerecht zu sein.“
„Diese Schule ist mein absoluter Traum. Das lass ich mir doch nicht gleich von einem unfreundlichen Lehrer vermiesen. Die an- deren scheinen recht nett zu sein.“ Nala blickte sich um. Sie hatte schlechte Erfahrungen mit ihren früheren Mitschülern gemacht. Aber seit dem letzten Sommer hatte sich einiges geändert und dieser bunte, internationale Haufen wirkte spannend und freundlich. Au- ßerdem gab es hier Rosalie. Gemeinsam mit ihrer Freundin fühlte Nala sich viel stärker. Als Herr Krämer die Tür zur Werkstatt der modernen Glasbläserei aufstieß, staunten die beiden Mädchen. Hit- ze schlug ihnen aus den Brennöfen entgegen. Schleifgeräte wurden von älteren Schülern bedient und lärmten. Auf den Regalen standen Glaskunstwerke. Die Atmosphäre war so lange locker und freund- schaftlich, bis Oskar Krämer den Raum betrat. Die rundliche Leh- rerin im weißen Arbeitsmantel grüßte ihn förmlich. Man hatte das
Gefühl, dass sogar sie die Luft anhielt, bei der Begegnung mit dem Direktor. Die Bewegungen der vor sich hin werkelnden Jugendlichen, wirkten nun angespannt und linkisch. Dieser Lehrer lähmte alles.
„Hast du es auch bemerkt?“, fragte Nala und zog die Schultern hoch. Es war, als würde die Wärme aus ihrem Körper gezogen.
„Klar, das ist irgendwie unheimlich.“ Rosalie schaute besorgt.
„Was ist mit dir?“
„Ich weiß nicht. Bisher habe ich mich nie vor einem Lehrer ge- fürchtet.“ Nala war selbst erstaunt, dass sie sich von der Stimmung derart mitreißen ließ. Zurück im Klassenzimmer durften sie ihre Skizzenblöcke und Graphitstifte herausholen. Die Aufgabe war, das verkündete Herr Krämer, ein Fabeltier zu zeichnen. Es sollte später die Vorlage für eine Arbeit in Glas sein. Man nannte die Technik
„fusing“. Dabei wurden Formen aus Glasplatten geschnitten, ver- schiedenfarbige Teile übereinandergelegt, gebrannt und somit ver- schmolzen. Hängte man das fertige Glasbild zum Beispiel vor ein Fenster, leuchtete es durch die Sonnenstrahlen, die es durchdrangen. Aufregend, es sollte die Rohskizze für ihr erstes Kunstwerk werden!
„Dann lasst mich einmal eure Idee sehen...“, in fast drohendem Tonfall forderte Herr Krämer sie auf, ein paar Entwürfe zu Papier zu bringen. Nalas Hand war jedoch wie versteinert. Ihr Gehirn fühlte sich schwammig und leer an. Rosalie beugte sich über ihr Zeichen- papier und legte los. Wie durch einen Schleier sah Sternenträumerin zu, wie ihre Freundin die Stifte benutzte. Sie zog kräftige Striche, schraffierte Licht und Schatten, während Nala Löcher in die Luft starrte.
„Was ist los mit dir?“, wisperte Rosalie ihr zu. „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.“
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