nenträumerin benutzte den Brunnen als Aufstiegshilfe.
„Kraaah, kraaaah!“ Laut krächzend meldete Tendo sich zu Wort. Er flatterte hoch am Himmel, direkt über ihnen und warte- te ab. Suchend drehte das Pferd seine Ohren. Der durchdringende Klang der Rabenstimme ertönte abermals.
Gespannt hielten die beiden Reiterinnen den Atem an. Für wel- che Richtung würde sich Gandalf entscheiden?
6 Hagazussa
Die Blätter am Boden raschelten, als die riesigen Hufe des Norikers auf den schmalen Pfad traten. Rosalie ließ die Zügel lang, dass Gan- dalf selbst seinen Weg wählen konnte.
„Erinnere dich, was Blaue Feder gesagt hat. Der Wunsch in un- seren Herzen muss klar und stark sein. Unsere innere Absicht ver- bindet sich dann mit der Absicht des Pferdes und verschmilzt damit. Nur so wird Gandalf zum Ziel finden“, hauchte Nala ihrer Hexen- schwester zu. Vor Aufregung wagte sie es kaum, laut zu sprechen.
Rosalie antwortete ebenfalls im Flüsterton: „Sprich den Wunsch deutlich aus. Es ist gut, das Gleiche zu wollen. Schließlich sitzen wir gemeinsam auf nur einem Pferderücken!“ Langsam wurde ihre Stimme kräftiger und glucksend: „Das wäre ein Spektakel, wenn Gandalfs Vorderteil mit mir nach links ginge, und das Hinterteil mit dir nach rechts!“ Inzwischen prustete Rosalie vor Vergnügen.
„Du kannst niemals ernst bleiben!“ Halb mahnend, halb belu- stigt regte Sternenträumerin sich auf.
„Das ist unmöglich. Sorry, aber das geht einfach nicht!“, quietschte Rosalie vor Vergnügen auf. Nala ließ sich von dem La- chen schließlich doch anstecken und kicherte mit. Danach löste sich ihr Atem und wurde ruhig. Der Scherz von der Freundin kam genau zur rechten Zeit. Ihr sonst so gelassenes Reitpferd hatte sich nämlich etwas verkrampft. Nun, nachdem die beiden Reiterinnen locker auf Gandalfs Rücken saßen, schritt auch er tiefenentspannt durch die Büsche.
Nala nahm den Faden ihres Gespräches wieder auf, um sicher- zustellen, dass sie einen Ort des Träumens fanden: „Wir möchten ei- nen heiligen Steinkreis entdecken und uns mit Blauer Feder treffen.“
Leise ergänzte Rosalie: „... und Wolfsherz will ich auch unbe- dingt wiedersehen...“ Nala, die dicht hinter ihrer Freundin auf dem Pferderücken saß, blies deren roten Locken aus ihrem Gesicht, denn sie kitzelten auf der Wange. „Du wirst mit ihm zusammen sein. Das spüre ich.“
Inzwischen waren sie zu fünft unterwegs. Sternenträumerin und Feuerwolf ritten auf Gandalf. Tendo flatterte von Ast zu Ast, verfolgt von einem rotbraunen, flinken Tier.
„Schau, das süße Eichhörnchen!“, rief Nala und zeigte in Rich- tung der Tannen, an denen sie sich vorbeidrückten. „Tendo hat ei- nen Freund gefunden!“, freute sie sich. „Sieh nur, wie federnd es springt! Es fliegt beinahe!“

Rosalie wünschte sich: „Das ist dann wohl hoffentlich MEIN lebendiger, echter Tierverbündeter. Du hast seit dem Sommer deinen schlauen Rabenfreund und ich bin noch immer allein.“
„Wie heißt du denn, du kleiner Springteufel?“, fragte sie das zarte Tier, das federnd zwischen den Bäumen umherhüpfte.
„Das Eichhörnchen kann doch nicht sprechen, wie Tendo!“, schüttelte Nala den Kopf.
„Ich werde deinen Namen schon irgendwie rauskriegen...“, Ro- salie lächelte dem possierlichen Tier zu. „Bleib bei uns, ja?“
„Ist es bloßer Zufall, dass das hübsche Wollknäuel ihnen folgte, oder könnte es wirklich mein Medizintier sein?“, dachte Feuerwolf.
Während sie weiterritten, flog das Eichhörnchen von Baum zu Baum und ließ Rosalie dabei nicht aus den Augen.
„Stopp! Schau, hier liegt der Ast, der beim letzten Mal hinter uns zu Boden gekracht ist“, warnte das rothaarige Mädchen.
„Nicht stehen bleiben! Wir haben uns entschieden, dass Gan- dalf den Weg bestimmt. Wenn er weitergeht, tun wir das auch.“ Nala wünschte sich unbändig, dass das Pferd einfach über das Hindernis steigen würde.
„Er müsste einen kleinen Sprung machen! Bist du sicher, dass du oben sitzen bleibst?“, wollte Feuerwolf wissen. Die Frage erübrig- te sich in diesem Moment bereits. Mit einem eleganten Hopser, den man dem schweren Kaltblut kaum zutraute, sprang Gandalf über das Hindernis. Die beiden Reiterinnen saßen noch immer erstaunt auf seinem Rücken.
„Boah, du springst wie eine Elfe! Wahnsinn!“ Rosalie kraulte das Pferd zärtlich am Widerrist.
Eines war den Mädchen jedoch nicht klar. Der Sprung hatte sie
in eine andere Wirklichkeit katapultiert. Unbedarft ritten sie den Pfad entlang. Wie aus dem Nichts tauchten plötzlich Schatten und flimmernde Gestalten auf. Unheimliche Klänge ertönten. Gandalf erstarrte, und selbst die Vögel hörten auf zu singen. Überwältigt von den furchteinflößenden Vorgängen zog sich Nalas Herz zusammen. Rosalie, die normalerweise stets einen Scherz auf den Lippen hatte, blieb stumm. Sogar Tendo legte den Kopf schief und hielt seinen Schnabel. Alle warteten ab. Nur ihr Atem und das gespenstische Wispern und Zischen waren zu vernehmen. Eine gefühlte Ewigkeit lang wagte es niemand, sich zu bewegen. Irrlichter tanzten durch die Luft und verformten die Baumrinden zu seltsamen Wesen. Atemlos sahen sie zu und ließen sich von ihrer Angst lähmen.
„Plumps! Raschel!“ Das rotbraune Eichhörnchen sprang los und fegte mit erhobenem Schwanz durch die Blätter. Es hüpfte di- rekt auf eine Gestalt zu, die niemand von ihnen zuvor bemerkt hat- te. Da stand wie angewurzelt eine ältere Frau mit weißem, gezopf- tem Haarkranz. Sie trug Bergschuhe und eine blaue Schürze, die mit Edelweißblüten bestickt war. Auf ihrem gebeugten Arm hing ein Korb, gefüllt mit Kräutern und Pilzen. In der anderen Hand hielt sie einen Holzstock, mit allerlei Federn und seltsamen Amuletten geschmückt. Ihr freundliches, faltiges Gesicht und die leuchtenden, blauen Augen blickten den Mädchen erwartungsvoll entgegen.
„Habt ihr euch also doch getraut!“ Mit diesem Satz begrüßte sie die jungen Medizinlehrlinge. „Ich warte schon eine ganze Weile. Die meisten Wanderer sind umgekehrt. Sie fürchten sich zu sehr, um durch das Tor zu treten. Das tapfere Pferd hat euch hierher geführt, nicht?“ Dem Eichhörnchen, das sich flugs in den Korb gesetzt hatte, strich sie sanft übers Fell. „Fini, lass die Schwammerl in Ruhe! Du kannst dir deine Nüsse selber sammeln“, sagte sie streng, aber lie- bevoll. Die Kräuterfrau setzte sich auf einen abgeschnittenen Baum- stumpf und seufzte ein wenig. „Nun, was sucht ihr denn hier?“
Nala nahm all ihren Mut zusammen. „Wir suchen einen magi- schen Ort. Wahrscheinlich ist es ein Steinkreis. Wissen Sie, wo es so etwas gibt?“
„Ich bin die Griseldis und kenn‘ mich aus in der Gegend, sagt man jedenfalls.“
Rosalie konnte sich nicht mehr zurückhalten und platzte mit ihrem Anliegen heraus: „Wir müssen unbedingt unsere Lehrerin Blaue Feder finden und Wolfsherz und die Mustangs und vielleicht ist ja auch Emanuel im Steinkreis und...“, irgendwann ging ihr bei dem langen Satz die Luft aus.
Tendo schwebte auf Nalas Schulter und setze sich. Griseldis hob ihren Blick und ließ ihn über Nala und ihr Schutztier gleiten. Fini, das Eichhörnchen hüpfte aus seinem Korb. Mit anmutigen Bewe- gungen sprang es zwischen den Ohren des erstaunten Gandalf hin- durch und kletterte durch die Mähne nach hinten zu Rosalie. Sie sahen fast aus wie die Bremer Stadtmusikanten: ein Pferd, darauf zwei Mädchen, eins mit einem Rabenvogel auf der Schulter, eins mit einem Eichhörnchen.
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