Bei diesem Anblick schmunzelte die Frau und stellte fest: „Ster- nenträumerin und Feuerwolf, dann seid ihr es also wirklich. Die Prophezeiung ist wahr!“
„Gehörst du zur geheimen Medizingesellschaft der Zopfmen- schen?“, fragte Nala wissbegierig.
„Ja, deshalb weiß ich von euch. Ich bin eine Hagazussa, eine Zaunreiterin. Hier in den Alpen nennt man uns meist Hexen. Ich sitze also am HAAG, das ist ein ursprüngliches, fast vergessenes Wort für Zaun. Hier sieht man nicht nur eine Seite der Welt. Sich vorzustellen, es gibt eine einzige Wahrheit, ist eine Falle. Wie ihr
wisst, gehören nicht nur Schamanen zur Gruppe. Hexen sind Heil- kundige, die sich mit Pflanzenmedizin und allerlei anderem Zauber auskennen. Wir Zopfmenschen sind Bewahrer von altem Wissen aus verschiedenen Traditionen auf dem ganzen Planeten und haben seit langer Zeit erkannt, dass es keine bessere oder schlechtere Kultur gibt. Es geht uns um die Heilung von Menschen, Tieren und Pflan- zen auf dieser Erde. Blaue Feder ist mit Tiermedizin vertraut und versteht deren Sprache. Sie liest Gedanken und kennt unsere Fragen, bevor uns selbst klar ist, was wir wissen wollen. Meine Medizin ist die Kräuterkunde. Ich kenne die Heilkraft der Pflanzen. Heute habe ich, außer den Pilzen, zum Beispiel Arnika, Beinwell und Johan- niskraut bei mir. Jeder und jede Einzelne der Zopfmenschen trägt mit speziellen Fähigkeiten dazu bei, dass wir glücklicher und weiser werden. Wir lehren Respekt vor allem, was lebendig ist. Ein tiefes Verständnis vom Träumen und Heilen erreichen wir nur, wenn wir voneinander lernen. Die Jungen von den Alten und umgekehrt, die Alten von den Jungen. Deshalb, seid willkommen!“
Rosalie und Nala waren still geworden. Die Worte der Hagazus- sa Griseldis erinnerten sie an die tiefe Verbundenheit und die innere Ruhe, wie sie im Steinkreis zu spüren war. Auch in innigen Momen- ten der Verbindung mit den Pferden gab es diese Art von Einssein. Iyuptala (ee-yoo-P’TAH-lah), so nannte es das Volk der Lakota. Das hatte sie Blaue Feder gelehrt. Es gehörte zum größten Glück, dass man diese intensiven Augenblicke der Stille empfinden konnte. Nichts anderes war mehr wichtig, wenn das Gefühl von Einssein entstand.
„Dann gehen wir doch gleich zum Steinkreis, los?“ Nala dräng- te zum Aufbruch.
Griseldis blickte sie ruhig an, lächelte und fragte: „Die wispern- den und zischenden Schatten und Irrlichter hast du aber schon be- merkt, oder?“
Das Mädchen nickte.
Die alte Zauberin fuhr fort: „Wie jeder magische Ort ist dieser Steinkreis in Tirol einzigartig. Rosalie hat im Sommer den richti- gen Zeitpunkt abwarten müssen, um einzutreten. Damals war der Vollmond notwendig dafür, dass sich für Feuerwolf das Portal in die Anderswelt geöffnet hat. Es gibt verschiedene Tore und ihre Hüter, um einen heiligen Ort zu bewachen. Hier existieren Hüterinnen des Raumes und der Zeit. Zu mir, in diesen Raum, seid ihr durch das Tor des Sprunges gekommen. Die Spiegelungen der Ängste, das sind die Schatten und Irrlichter, verschwinden, sobald die Zeit reif ist.“
7 Eichhörnchen
An diesem Abend lümmelten die beiden Hexenschwestern bequem auf dem breiten Himmelbett in ihrem gemeinsamen Zimmer.
„Außer deinen Stiften und Zeichenblöcken hast du doch wohl auch das Buch mitgebracht?“, fragte Rosalie.
„Ich hab jede Menge Bücher dabei.“ Nala wusste genau, welches geheimnisvolle Nachschlagewerk ihre Freundin meinte und zwin- kerte ihr zu.
„Was frag ich auch so blöd?“ Feuerwolf knuffte ihrer Medizin- schwester in den Arm.
„Ich ahnte gar nicht, dass du derart romantisch bist“, feixte Nala und zeigte auf den weichen Stoff des Baldachins, der sich über das Bett spannte.
„Als kleines Mädchen habe ich mir gewünscht, dass ein Ster- nendach meinen Schlaf bewacht, und ich finde das immer noch ge- nial. Damals hat mir Papa dieses tolle Himmelbett gebaut. Ich war so glücklich. Heute bin ich natürlich viiiiel cooler“, erklärte Rosalie.
„Jetzt sehe ich sie auch, die winzigen, silbernen Sterne auf dem Himmelszelt, zu denen du vor dem Einschlafen hinaufschaust“, be- merkte Sternenträumerin.
„Normalerweise ist das eher dein Ding, oder?“, zog die tempe- ramentvolle Rosalie ihre Freundin auf. „Aber genauso wie du, habe
auch ich eine träumerische Seite. Deine wilde und entschlossene Kraft hat sich erst vor Kurzem in Südfrankreich entwickelt. Sonst würden wir uns vielleicht gar nicht so gut verstehen. Und jetzt her mit dem roten Buch!“, forderte die rothaarige Hexenschwester.
Nala zog endlich das alte Werk aus ihrem Rucksack. In den Sommerferien hatten sie darin gelesen und wie von Zauberhand wa- ren ihre Medizinnamen, als Widmung auf der ersten, leeren Seite erschienen. Seither gehörte ihnen das mysteriöse Buch gemeinsam. Das hatten sie jedenfalls beschlossen. Sternenträumerin und Feuer- wolf lehnten sich zurück und widmeten sich genüsslich der Lektüre.
und ihre Bedeutung in der Mythologie
Das Eichhörnchen
In der nordischen Mythologie lebt das rote Eichhörnchen Ratatöskr in den Zweigen des Welten- baums Yggdrasil. Es hat die Fähigkeit, zwischen den ver-
schiedenen Welten kinderleicht hin- und herzuspringen. Wie alle roten Tiere ist Ratatöskr dem Donnergott Thor geweiht.
„Ratatöskr? Wie spricht man DAS denn aus?“, staunte Rosalie.
„Ich bin bloß froh, dass mein Eichhörnchen Fini heißt. Ratatöskr bringe ich, wenn‘s schnell gehen muss, sicher nicht fließend über die
Lippen.“ Das Mädchen war überglücklich. Die Beschreibung ihres Medizintieres gefiel ihr. Besonders die Zugehörigkeit zum Donner- gott Thor fand sie aufregend.
Nala sagte begeistert: „Stell dir das einmal vor! Das Eichhörn- chen lebt im Weltenbaum Yggdrasil. Das ist ein Zauberbaum, wie die alte Eiche! Vielleicht kann Fini durch die Kronen, Blätter oder Wurzeln der mystischen Bäume von einer Welt in die andere hüpfen. Es würde mich nicht wundern, dass so etwas möglich ist.“
Rosalie sprach weiter: „Wieder hat sich ein rotbraunes Tier mit mir verbunden. Denk an Tanzendes Feuer, mein Pferd in der magi- schen Dimension! Sie ist eine Fuchsstute. Auch Gandalf schimmert rötlich. Wenn ich noch Zweifel hätte, ob Fini wirklich zu mir gehört, verschwinden sie bei jedem Wort aus diesem Buch mehr und mehr.“ Interessiert lasen die Hexenschwestern weiter:
Die gewandten Wald- bewohner sind wage- mutige Kletterer und fliegen regelrecht von Baum zu Baum. Vorausschauend sam- meln sie Nahrung für die entbehrungsrei- che Winterzeit und vergraben ihren Vor- rat. Das kleine Tier knackt die härtesten Nüsse. Das bedeutet,
dass die Menschen, die mit ihm verbun- den sind, selbst diese Fähigkeit haben und sie auch brauchen werden. Rätsel be- gleiten sie auf ihrem Weg. Das Krafttier Eichhörnchen ist ein liebenswerter Seelen- partner und spiegelt den sanften inneren Anteil des Wesens.
„Tok, tok, tok“. Es klopfte ans Fenster. Die Mädchen sprangen gleichzeitig auf und flogen beinahe durchs Zimmer.
„Das ist Tendo!... und Fini!“, riefen sie. Die beiden Tierverbün- deten saßen einträchtig am Fensterbrett. Als die Freundinnen die Fensterflügel aufrissen, flüchtete das scheue Eichhörnchen und klet- terte flink die Hausmauer entlang nach oben.
„Psst, langsam!“, zischte Rosalie. „Fini ist nicht an uns ge- wöhnt. Sie ist schüchterner als der freche Rabe.“
Der saß schon auf einer hohen Stange des Himmelbettes. Wie in Frankreich suchte sich der Vogel einen Platz, wo er den Überblick behielt. Nala hatte das verschlissene Buch gefunden, als Tendo in ihr Leben gekommen war. Im Kapitel über Raben erfuhr sie, dass diese schwarzen Gesellen Magie und Zauberei mit sich brachten, Götterboten waren und zuständig für das Hüten der magischen Gesetze. Als Gestaltwandler und Stimmkünstler verwandelten sie sich mit Leichtigkeit. Das berichteten jedenfalls die alten Märchen und Mythen. Außerdem schlossen sich Raben oft Wolfsrudeln an. Und ein Wolf war das Krafttier von Rosalie. Man konnte mehrere Tierverbündete um sich versammeln. Manche davon begleiten die Menschen, die sie beschützen als energetische Unterstützer. Ande- re Medizintiere werden auch in der Alltagswelt sichtbar. Feuerwolf wünschte sich innigst, dass sie, wie ihre Freundin, ein solches Kraft- tier begleitete. Jetzt war es so weit. Na ja, fast! Denn noch tanzte Fini die Hausmauer hinauf und hinunter.
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