Gleich fügte Greta hinzu: „Im Norden finden wir das Element Luft. Das steht für unseren Geist, die Gedanken, die Philosophie und den Humor. Hier öffnen wir uns für die verrücktesten und des- halb stärksten Ideen. Nichts ist so unaufhaltsam wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“
Paul, der bis jetzt abgewartet hatte, sagte in seiner besonnenen Art: „Das Element Feuer im Osten des Medizinrades unterstützt die spirituelle Seite von uns Menschen, die Vision. Wir fragen hier nach dem Weg unseres Herzens. Dann gehen wir auf das Licht, das am hellsten leuchtet, zu. Was bringt langfristig das größte Glück ins Le- ben? Starke, klare, wichtige Themen werden im Osten beleuchtet.“
„Aber eigentlich gibt es fünf Elemente, denn im Zentrum des Rades befindet sich die geheimnisvolle Leere. In manchen Kulturen wird sie auch Liebe oder Äther genannt. Hier ist der Platz, wo alle Elemente sich begegnen und vermischen können. So werden sie zur Weisheit. Wenn wir das ganze Medizinrad befragt haben, setzen wir hier, in der Mitte, die Antworten zusammen. Das Besondere an der Philosophie des Rades ist, dass die Elemente und somit auch alle Teile des Menschseins gleichwertig auf einem Kreis angeordnet sind. Der Geist des Menschen ist nicht wichtiger als seine Emotionen, sein Körper oder sein Spirit.“ Es war die Schamanin Blaue Feder, die gesprochen hatte. „Setzt euch in die Himmelsrichtung, die ihr be- schrieben habt und lasst uns den Weg der Freiheit für Lilou erträu- men.
10 Ritual
Die Träumer saßen in den vier Himmelsrichtungen des Steinkrei- ses. Blaue Feder hatte sich direkt unter der alten Eiche auf ihre wundervoll gemusterte Satteldecke gesetzt. Wolfsherz blieb bei der Mustangherde und spielte mit den Pferden. Auch das war wichtig. Die Tiere sollten in der Nähe bleiben und dadurch die Zeremonie unterstützen. Ruhig atmend versenkten sich die Träumer in eine meditative Stille. Alle suchten nach der Antwort auf die Frage, wie sie Lilou helfen konnten. Es dauerte eine Weile, bis die ersten Worte ausgesprochen wurden.
Emanuel, der im Süden, am Platz des Wassers, saß, hatte die Vision, wie er mit seinem Medizintier, dem Delfin durch die Wellen schoss. Spielerisch sprang das elegante Tier durch die Luft. Dann tummelte es sich wieder im klaren Blau des Meeres. Emanuel fühlte sich leicht, frei und beweglich.
Er sprach: “Lilou braucht jemand, der mit ihr spielt. Ihr Herz schließt sich, wenn man eine Leistung von ihr verlangt, die sie über- fordert. Sie sehnt sich nach Nala. Die hat mit ihr gespielt! Sternen- träumerin hat dem Pferd Zeit gelassen. Es konnte wieder vertrauen. Wir müssen einen Weg finden, wie sie zu dem Mädchen, das ihr endlich zugehört hat, kommt. Selbst hier bei uns wird Lilou niemals glücklich.“ Seine Stimme klang, als käme sie von weit her, aus einem fernen Land, jenseits des Ozeans.
Claire, die im Westen des Medizinrades träumte, murmelte kryptisch: „Eine Botschaft aus der Zukunft taucht auf. Ich sehe die weiße Araberstute. Sie ist verletzt. Ich fühle ihren Schmerz und ihre
Angst. Nicht nur Lilou sehnt sich nach Nala. Es ist auch umgekehrt so. Um zu verstehen, wie Heilung geschieht, braucht das Mädchen ihr Herzenspferd in ihrer Nähe. Sternenträumerin hat eine starke, natürliche Kraft. Sie wird ihren Weg zur Heilerin gehen, wenn wir sie weiter unterrichten und das Pferd zu ihr zu bringen.“
Aus dem Norden meldete sich Greta. Sie saß am Platz des Win- des und des Geistes. „Das Schwert meines Verstandes kündigt eine Reise an. Ich sehe Nala auf Lilous Rücken über hohe Berge reiten. Die Araberstute braucht ein spezielles Training, um ihre volle Leistung im Distanzreiten zu erbringen. Das wird den Besitzern einleuchten. Das Höhentraining in den Alpen ist die beste Voraussetzung für den Erfolg des Pferdes, vor allem jedoch für seine Erholung und Hei- lung. Wie die schnellsten Läufer oft aus den Hochländern Afrikas stammen, könnte die sauerstoffreiche Luft in den Bergen das zu- künftige Rennpferd zum Sieg führen. Was später passiert, sehe ich nicht mehr klar. Die Bilder verschwimmen...“
Jetzt fehlte noch die Vision aus dem Osten. Dort saß Paul. Sei- ne Art zu träumen war sehr speziell und oft schwer zu verstehen. Wie ein Orakel klang seine Stimme. Sie war tief und rau, fast flü- sternd. „Feuer, ich sehe Feuer. Es verletzt und reinigt. Aber es führt auch zum Weg des Herzens. Die beiden müssen durch die Flammen springen und ihre eigene Vision finden.“ Bisher waren Pauls Bot- schaften äußerst rätselhaft gewesen und hatten sich stets als wichti- ger Schlüssel zur Lösung entpuppt.
Blaue Feder meldete sich aus der Mitte, dem Platz der Leere. Sie hatte alle Bilder auf sich einwirken lassen. Dabei beobachtete die Medizinfrau die Bewegungen eines zierlichen Tieres in der Krone der Eiche. „In den Blättern des Baumes springt ein rotbraunes Eich- hörnchen von Ast zu Ast. Es verbindet und vernetzt durch seinen emsigen Tanz die Träume, von denen ihr berichtet habt. Aber vor allem ist es verspielt und flink. Durch das Eichhörnchen als Ver-
bündeten werden Geist und Körper wendiger. Es bereitet auf außer- gewöhnliche Herausforderungen vor. Dieses Medizintier gehört zur Heilung der beiden.“
Eine frische Brise wehte über die Lichtung. Der Wind weckte die Träumer aus ihrer Trance. Die Mähnen der Mustangs flatterten. Das lange Haar von Wolfsherz wurde vom Luftzug zerzaust. Der Me- dizinlehrling beobachtete die Zeremonie von seinem Platz bei den Pferden. Er spitzte die Ohren bei jedem Satz, der von den Träumern erzählt wurde. Der Junge dachte an Rosalie, das Mädchen mit dem Wolfsgesicht und Nalas beste Freundin. Bei ihrer einzigen Begeg- nung in der Vollmondnacht hatte er eine tiefe Verbindung gespürt. Waren sie sich so ähnlich durch die Wolfsmedizin? Sehr deutlich hatte auch er Bilder vor den Augen. Der Junge sah Rosalie und Nala, Emanuel und sich bei einem ungestümen, fröhlichen Ritt über einen gewaltigen Bergrücken! Selbst wenn er nicht direkt an dem Ritual beteiligt gewesen war, seine Träume verwebten sich längst mit denen der Träumer im Medizinrad.
Voller Zuversicht lehnte er sich an Wakanda. Die beiden unter- schiedlichen Augen des Hengstes wirkten auf ihn nicht beängsti- gend, wie das für einige andere Menschen war. Wolfsherz wusste, dass es darum ging, zwei Welten zu verbinden. Es gab viel mehr zu entdecken als das Offensichtliche einer Wirklichkeit. Wakanda schnaubte leise und stupste den Jungen an die Wange. Lächelnd stupste er zurück.
11 Waldpfad
Sobald es ihr Stundenplan zuließ, radelten die Mädchen wieder zu ihren Lieblingen in den Stall.
„Ich bin reif wie Schweizer Käse kurz vor dem Ablaufdatum! Ich will endlich den Steinkreis finden. Diesmal werde ich nicht bis zum Vollmond warten, wie in Südfrankreich“, lautstark schimpfte Rosalie vor sich hin. Grummelnd fuchtelte sie mit der Mistgabel her- um. Um ernsthaft sauber zu machen, war das wenig effektiv.
„Beruhige dich. Du bist ja direkt gefährlich mit deiner Her- umstocherei! Womöglich haben die Hüterinnen der Zeit bereits be- schlossen, dass wir willkommen sind. Ich kann es kaum abwarten. Was ist nur mit Lilou los? Ich muss das unbedingt wissen. Niemand vom Hof meldet sich. Ich versuche dauernd anzurufen.“ Nala klang besorgt.
„Komm, wir schwingen uns auf Gandalf und reiten los. Mehr, als auf halbem Weg steckenbleiben wie beim letzten Mal, werden wir hoffentlich nicht.“
Bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, sauste Rosalie los und holte Reithalfter, Putzzeug und Helm. Nala flitzte hinterher. Gandalf stand bereit. Der zuverlässige fuchsfarbene Noriker mit blonder Mähne ruhte in sich. Ohne ein Zucken duldete er, dass die Hexenschwestern sein Fell mehr abstaubten, als es zu putzen. Sie hatten es eilig. Das war auch ihm klar. Auf seinem breiten Rük- ken trug der Riese Sternenträumerin und Feuerwolf in die gewohn- te Richtung zum Hexenbrunnen. Heute war es überraschend heiß.
Читать дальше