„Ich versuch zu zeichnen, aber mir fällt absolut nichts ein. Nun bin ich endlich hier, am Ziel meiner Träume, und versage kläglich.“
Verzweifelt blickte Nala auf das weiße Blatt Papier, das vor ihr lag. Bevor sie ganz aufhörte zu atmen, musste sie etwas unterneh- men. Was könnte ihr nur die Kraft, den Mut und die Lebensfreude zurückbringen, die sie in der letzten Stunde verloren hatte? Nala schloss die Augen, atmete tief ein. In einer Vision erschien ihr die weiße Araberstute Lilou. Sternenträumerin erinnerte sich daran, wie sie endlich auf dem scheuen Pferd gesessen und mit ihr über die Weide galoppiert war. In Nalas Körper breitete sich ein Gefühl von Heimat aus. Iyuptala, Einssein sein mit Allem. Das gab ihr Mut. Zö- gernd begann sie mit ein paar unsicheren Bleistiftstrichen. Es half, einfach loszulegen. Das Zeichnen, das Nala so liebte, entspannte das Mädchen. Wie sie es schon oft erlebt hatte, flossen Formen und Schraffierungen aus ihren Fingern. Ein Pegasus entstand. Ein Pferd, das sich mit den Vorderbeinen erhob, um in die Luft zu steigen. Flügel breiteten sich aus. Er war frei. Langsam kehrte wieder ein Lächeln in Nalas Gesicht zurück. Ja, so fühlte sie sich, wenn sie mit einem Blatt Papier und einem Stift in ihre Phantasiewelt eintauchte. Sie vergaß die Welt um sich herum. Sogar den furchteinflößenden Direktor konnte Nala ausblenden. Mit einem zufriedenen Seufzer lehnte sie sich zurück. Sie blinzelte auf das Blatt, das vor Rosalie lag und entdeckte darauf einen Drachen. Die Zeichnung wirkte leben- dig und ausdrucksstark. Dieses feurige Fabelwesen war typisch für ihre ungestüme Freundin.
„Hmhmmm!“, räusperte sich Herr Krämer und blickte den bei- den Mädchen über die Schulter. „Da habt ihr ziemlich wilde Tiere aufs Papier gebracht. Ich hoffe, ihr könnt euer Temperament beim Arbeiten in der Werkstatt besser zügeln.“ Sein Tonfall war ernst aber auch amüsiert. „Fürs Erste sind das gute Entwürfe. Jetzt müsst ihr sie so vereinfachen, dass man durch den Umriss den Charakter eures Fabeltieres erkennt. Und weiter...! Nächster Arbeitsschritt.“
„Hoffentlich geht’s Lilou gut...“ Nala war mit den Gedanken bei ihrem Liebling.
„Am Nachmittag reiten wir los, sonst wirst du noch verrückt“, sehnsüchtig schaute Rosalie aus dem Fenster. Flog da nicht Tendo vorbei?
9 Inzwischen in Südfrankreich
Es war eine besondere Gesellschaft, die voller Sorge auf die große, alte Eiche zuging. Greta, die Reitlehrerin und Besitzerin des Gestüts, Emanuel der junge, angehende Pferdewirt, in den Nala sich verliebt hatte, Paul, ein erfahrener Pferdepfleger und Claire. Sie war die Kö- chin und Hüterin des uralten Steinkreises rund um den Baum. Wie immer trug sie bunte, verrückte Klamotten und das Haar war zu einem wirren Knoten zusammengesteckt. Ihre Frisur ging locker als Vogelnest durch. Nala hatte diesen Kraftplatz unter dem magischen Baum im Sommer in höchster Not entdeckt. So wurde die Flucht vor den anderen Jugendlichen, die ihr einen üblen Streich gespielt hat- ten, zu ihrem größten Glück. Als Sternenträumerin den Steinkreis betreten hatte und sich in ihrer Verzweiflung unter die Eiche setzte, gelangte sie in eine Zauberwelt. Das Tor in diesen Traumraum wur- de jedoch nur für besondere Menschen geöffnet. Für Menschen, die sich ganz auf die andere Wirklichkeit einlassen wollten, die phanta- sievoll und mutig waren.
„Es ist Zeit, Blaue Feder zu treffen“, sagte Claire. Gemeinsam schritten die vier Bewohner des Gestüts „Zur Großen Eiche“, auf Französisch „Aux Grande Chêne“ über die Lichtung. „Lilou darf nicht zu ihren Besitzern zurück! Sie haben die schöne, weiße Ara- berstute echt mies behandelt. Nala hat das Pferd mit all ihrer Liebe ins Leben zurückgeholt. Endlich hat es wieder Vertrauen gefasst und jetzt sollen wir es einfach in den Hänger laden und seinem Schicksal überlassen? Diese gefühllosen Menschen fordern, dass Lilou bei Di- stanzrennen mitläuft und Preisgelder gewinnt. Nicht mit mir!“
Gretas zornige Schritte wurden immer länger. Die groß gewach- senen Reitlehrerin ging eilig auf den Steinkreis zu. Dabei wippte ihr dunkler, dicker Zopf, der bis fast zur Hüfte baumelte, wild hin und her. „Nein! So geht das wirklich nicht! Zuerst schicken sie uns ein verstörtes, verschrecktes Pferd, und sobald seine seelischen Wunden anfangen zu heilen, wollen die Besitzer es als Sportpferd verheizen. Lilou ist einfach nicht dafür gemacht! Und selbst wenn, bräuchte die Stute viel mehr Zeit, um wieder zu Kräften zu kommen und sich zu erholen. Blauer Feder fällt hoffentlich eine Möglichkeit ein, wie wir dieses wundervolle Tier hierbehalten können.“
Kopfschüttelnd schritt Paul, der alte Pferdepfleger, neben Gre- ta her. Seinen Strohhut schob er nachdenklich in den Nacken und runzelte die Stirn. Er machte nie viele Worte um ein Problem. Umso entschlossener setzte er sich für die Lösung ein.
Am Rand des Steinkreises blieb die Reitlehrerin stehen. Sie war- tete, bis die ganze Gruppe sich vor den beiden größeren Felsbrocken versammelten, die wie ein Tor wirkten.
Emanuel war aufgeregt. Zum ersten Mal reiste er mit den er- wachsenen Mitgliedern der Zopfmenschen in die Zauberwelt. Alle kannten die Regeln, um dorthin zu gelangen.
Bewusst und achtsam in den Steinkreis treten.
Mit der Natur vollkommen verschmelzen und sich mit allen Sinnen mit der Umgebung verbinden.
Sich auf den Wunsch konzentrieren, Blaue Feder zu treffen. Den Rücken an den starken Stamm gelehnt, ließen sich die er-
fahrenen Träumer nieder. Sie waren darin geübt, sich zu entspannen
und in eine tiefe Trance zu versinken. Das Gezwitscher der Vögel,
die vorbeiziehenden Wolken, all das wirkte auf magische Weise. Mit ruhigen, langsamen Atemzügen ließen sich die Träumer in die An- derswelt sinken, um eine Antwort auf ihre Frage zu finden. Die Fra- ge: Wie können wir Lilou, die weiße Araberstute, retten?
Blaue Feder erschien am Horizont. Die Schamanin ritt auf der Fuchsstute Tanzendes Feuer über die Lichtung. Die Mustangher- de mit Mondlicht, dem gescheckten Mustang, den beiden Fohlen und Wave, der grau-schwarz gepunkteten Stute, folgte. Am Schluss trabte Wolfsherz auf dem Hengst Wakanda. Dieses außergewöhnli- che Pferd war schokoladenbraun. Mit seinen unterschiedlichen Au- gen, eines hellblau und eines dunkelbraun, besaß es die Fähigkeit, gleichzeitig in verschiedene Welten zu schauen.
Greta, Emanuel, Paul und Claire sprangen auf und begrüßten die Medizinfrau und deren Lehrling überschwänglich. Besonders die zwei Jungen strahlten und umarmten sich brüderlich. Doch die Freude auf ihren Gesichtern wich bald besorgten Mienen. Sie spra- chen über das Problem mit Lilous Besitzern.
„Wie wir es gelernt haben, beantworten wir Fragen auf unsere eigene Art. Wir erträumen ein Ritual im Medizinrad und lösen Pro- bleme nicht durch bloßes Nachdenken“, erinnerte Blaue Feder ihre Freunde.
Emanuel mischte sich in die Unterhaltung der erfahrenen Zopf- menschen ein, indem er sein Wissen heraussprudelte: „Das Medi- zinrad, das wir benutzen, besteht aus den vier Himmelsrichtungen. Ihnen ist jeweils ein Element zugeordnet. Im Süden des Rades ist das Wasser, wie zum Beispiel Bäche, Quellen und Meere. Es steht für die Gefühle und das Herz. Man nennt diese Richtung den Fluss des Le- bens. Zum Westen hingegen gehört die Erde und alles, was Körper oder Materie ist. Hier geht es um Heilung, unser Zuhause und das, was wir berühren, also angreifen können.“
Claire ergänzte: „Ich als Köchin möchte sagen, dass auch die Nahrung hierher passt. Der Westen ist der Ort, an dem Magie er- fahren wird. Auf dem Platz von Großmutter Erde kann sich alles verwandeln, körperliche Heilung ist möglich.“
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