Ingrid Noll - Der Hahn ist tot

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Sie hält sich für eine Benachteiligte, die ungerecht behandelt wird und zu kurz kommt. Mit zweiundfünfzig Jahren trifft sie die Liebe wie ein Hexenschuß. Diese letzte Chance muß wahrgenommen werden, Hindernisse müssen beiseite geräumt werden. Sie entwickelt eine bittere Tatkraft: Rosemarie Hirte, Versicherungsangestellte, geht buchstäblich über Leichen, um den Mann ihrer Träume zu erbeuten.

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Ingrid Noll

Der Hahn

ist tot

Roman

Altweibersommer

Septembergold
Und neuer Wein,
lch hab’ gewollt
Es wär aus Stein,
Mein Herz aus Gold.

Oktoberrot
Und Hasenjagd.
Die Liebe tot.
Die Leiche fragt
Nach Lippenrot.

Novembergrau,
Die Toten ruhn.
Mein Haar wird grau.
Ich färb’ es nun:
Altweiberblau.

1

In der Schule hatte ich zwei altjüngferliche Lehrerinnen, die behaupteten, ihre Verlobten seien im Krieg gefallen. Wenn man wie ich nicht verheiratet, verwitwet, geschieden ist, keinen Lebensgefährten oder Freund hat — von Kindern ganz zu schweigen — und nicht mal mit kurzfristigen Männerbekanntschaften aufwarten kann, dann kriegt man heute wie damals einen abwertenden Spitznamen ange hängt. Aber eine alte Jungfer wie meine Lehrerinnen bin ich nicht. Und es gibt auch Leute, die meinen Status positiv sehen: Verheiratete Kolleginnen betrachten meine Unabhängigkeit, meine Reisen, meine berufliche Karriere oft mit Neid und dichten mir so manches romantische Urlaubserlebnis an, wozu ich vielsagend lächle.

Ich verdiene gut, ich halte mich gut. Mit meinen zweiundfünfzig Jahren sehe ich besser aus als in meiner Jugend. Mein Gott, wenn ich die Fotos von damals sehe! Gute zwanzig Pfund zuviel, eine unvorteilhafte Brille, diese plumpen Schnürschuhe und der Bordürenrock. Ich war die Frau, mit der man angeblich Pferde stehlen kann und die schließlich selbst einem Pferd immer ähnlicher wurde. Warum hat mir damals keiner gesagt, daß es auch anders geht! Make-up habe ich verachtet, ohne dabei »natürlich« auszusehen. Ich war voller Komplexe. Heute bin ich schlank und gepflegt, meine Kleider, mein Parfüm und erst recht meine Schuhe sind teuer. Hat es was gebracht?

Damals im Bordürenrock studierte ich Jura. Warum gerade das? Vielleicht weil ich keine ausgesprochene Begabung für Sprachen hatte und, ehrlich gesagt, auch sonst keine. Ich dachte etwas naiv, in diesem neutralen Fach wäre ich gut 5 untergebracht. Viele Jahre war ich befreundet mit Hartmut. Wir lernten uns gleich im ersten Semester kennen. Eine zündende Leidenschaft war es nicht; wir paukten zusammen bis in die Nacht, und schließlich war es zu spät zum Heimgehen. So entwickelte sich ein festes Verhältnis, und eigentlich war mir klar, daß es auf eine Ehe mit zwei Kindern und einer gemeinsamen Anwaltspraxis hinauslief. Kurz vorm Examen, ich hatte damals nur Paragraphen im Kopf, teilte mir Hartmut schriftlich mit, daß er demnächst heiraten würde. Ich fiel aus allen Wolken und durch die Prüfung. Hartmut bestand und wurde bald darauf Vater. Ich sah ihn zuweilen mit Frau und Kinderwagen durch unseren Park spazieren.

Mir ging’s schlecht damals, ich nahm dramatisch zu und wieder ab und wollte um keinen Preis ein zweites Mal zum Examen antreten. Meine Mutter starb in jener Zeit, mein Vater war schon lange tot. Geschwister habe ich nicht; ich war sehr einsam.

In den Semesterferien hatte ich häufig bei einer Rechtsschutzversicherung gearbeitet. Man bot mir dort eine Stelle als Sachbearbeiterin an; es war nichts Aufregendes und wurde schlecht bezahlt. Trotzdem nahm ich an, denn schließlich mußte ich auf eigenen Füßen stehen, obgleich ich von meiner Mutter eine kleine Erbschaft hatte. So sah es mit mir aus vor siebenundzwanzig Jahren.

Ich blieb noch acht Jahre in Berlin. Bei meiner Versicherung machte ich ein wenig Karriere; ich war bienenfleißig, ich hatte den Ehrgeiz einer Beinah-Akademikerin, und schließlich hatte ich kaum andere Ablenkungen. Der berufliche Erfolg tat wenigstens gut, ich mauserte mich auch äußerlich, wurde selbstbewußter, tat viel für die gute Figur, ging ständig zu Frisör und Kosmetikerin, kaufte mir eine teure und sehr englische Garderobe. In den letzten Berliner Jahren wurde einer der Chefs auf mich aufmerksam und förderte mich.

Nach fünfjähriger Pause hatte ich meine zweite Männergeschichte. Vielleicht war ich sogar etwas verliebt, aber im Vordergrund stand für mich die Anerkennung. Dieser Mann fand mich klug, schick, nett und sogar hübsch, und ich blühte richtig auf. Es war mir egal, daß er verheiratet war. Als nach zwei Jahren schließlich jeder bis zum jüngsten Büroboten von unserer Affäre wußte, erfuhr es als letzte auch seine Frau. Die Sache war an und für sich bereits am Abklingen, als der Terror losging. Nachts wurde ich vom Telefon hochgeschreckt, im Briefkasten lagen anonyme Drohbriefe, auf meinem Wagen klebten Kaugummis, und einmal hatte sie sogar eine Tube Alleskleber in die Autoschlüssellöcher gequetscht — es war mir klar, daß nur sie das gewesen sein konnte. Da er aber nachts nie bei mir blieb, verstand ich nicht, wieso sie zu Hause um vier Uhr morgens telefonieren konnte, ohne von ihm ertappt zu werden. Später bekam ich auch das zu hören: Er hatte bereits eine Neue, und dort übernachtete er sehr wohl. Wenn seine Frau wieder einmal allein im Bett lag, wollte sie ihn wenigstens durch Telefongeklingel stören. Natürlich dachte sie, er wäre bei mir.

Ich habe mich in jenen Tagen gleichzeitig bei vielen Versicherungen in allen möglichen Städten beworben, aber es dauerte ein ganzes Jahr, bis es klappte. Mir war es einerlei, wohin ich kam, ich wollte nur weg und neu beginnen.

Als ich Mitte Dreißig war, zog ich nach Mannheim. Ich kannte weder die Stadt noch einen Menschen dort. Nach einem halben Jahr fiel mir allerdings ein, daß meine Schulfreundin Beate hier irgendwo in der Nähe, in einer Kleinstadt an der Bergstraße, leben müsse. Seit ich nach dem Abitur nach Berlin gezogen war, hatten wir uns aus den Augen verloren und in der ganzen Zeit nur einmal bei einem Klassentreffen gesehen.

In unserer Jugendzeit in Kassel wohnte Beate am Ende meiner Straße. Ob sie sonst meine Freundin geworden wäre, kann ich nicht sagen. Auf dem Schulweg kam ich zwangsweise an ihrem Haus vorbei. Dort blieb ich stehen und pfiff. Ich war immer sehr pünktlich, Beate dagegen gar nicht. Manchmal hatte ich fast das Gefühl, sie durch mein Pfeifen erst geweckt zu haben. Ich mußte immer lange warten, bis sie endlich an der Haustür erschien, oft kam ich durch ihre Schuld zu spät. Aber nie ging ich allein, zwanghaft habe ich vor ihrem Haus gestanden. Beate hatte eine beste und eine zweitbeste Freundin, dann kamen mehrere Nebenfreundinnen, und zu denen gehörte ich. Ich dagegen hatte wahrscheinlich nur zwei oder drei von dieser letzten Sorte und überhaupt keine Busenfreundin.

Beate hatte einen Architekten geheiratet, viel mehr wußte ich nicht über ihr Schicksal. Als ich sie anrief, lud sie mich sofort zu einer Party ein, die in wenigen Tagen geplant war. Ich ging auch hin und sah das Familienglück: drei süße Kinder, ein gutaussehender charmanter Mann, ein wunderschönes Haus, eine strahlende Beate, die ein vorzügliches Essen für die vielen netten Leute gekocht hatte. Alles wie im Bilderbuch. Im Grunde war ich voller Animosität wegen so viel Sonnenschein.

Ich fuhr in schlechter Laune und unversöhnlichem Neid nach Hause. Aber trotz allem habe ich Beate auch eingeladen, und wenn sie in Mannheim einkaufen ging, kam sie gelegentlich nach Ladenschluß auf einen Sprung vorbei. Oft war das nicht.

Dieses nicht sehr enge Verhältnis änderte sich schlagartig, als Beates heile Welt zehn Jahre später in die Brüche ging. Die süßen Kinder wurden schwierig und aufsässig, blieben sitzen, haschten, klauten, kamen nicht heim. Der charmante Mann hatte ein Verhältnis mit einer viel jüngeren Kollegin. Wie damals in meinem lang zurückliegenden Hartmut-Drama wurde diese Kollegin schließlich schwanger, er ließ sich scheiden und gründete eine neue Familie. Beate wurde depressiv und heulte mir wochenlang am Telefon und in natura die Ohren voll. Irgendwie fühlte sie sich von mir verstanden, und ich hatte auf einmal das gute Gefühl, helfen und trösten zu können. Seitdem erst wurden wir echte Freundinnen.

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