Beispiele: Vorführung des Geschlechtsverkehrs auf der Bühne (BAG AP Nr. 34 zu § 138 BGB). Das BAG hat sich mittlerweile der vom BGH (BGHSt 43, 53) und den Instanzgerichten (LAG Berlin, NZA-RR 1998, 392; LAG Bremen, BeckRS 2008 56018; LAG Rheinland-Pfalz BeckRS 2008 55566) vertretenen Auffassung zum Lohnwucher angeschlossen, wonach ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung i. S. d. § 138 Abs. 2 BGB vorliegt, wenn der vereinbarte Lohn weniger als 2/3 des Tariflohnes beträgt. (BAG NZA 2012, 978; vgl. zur Bestimmung der Sittenwidrigkeit Henssler/Sittard, RdA 2007, 159). Im Fall des Lohnwuchers ist nur die Entgeltvereinbarung, nicht der ganze Arbeitsvertrag nichtig; an die Stelle der vereinbarten tritt die übliche Vergütung (vgl. § 612 Abs. 2 BGB) oder § 1 MiLoG, siehe Rdnr. 172. Allerdings stellt sich das praktische Problem, dass der Arbeitnehmer die subjektiven Voraussetzungen von § 138 BGB (bei Absatz 2 Kenntnis vom Missverhältnis sowie Ausnutzen der Unterlegenheit des Arbeitnehmers, bei Absatz 1 eine verwerfliche Gesinnung) beweisen muss, wenn nicht die übliche Vergütung mindestens doppelt so hoch ist wie die vereinbarte (BAG AP Nr. 67 zu § 138 BGB).
190b) Mögliche Anfechtungsgründe ergeben sich aus den §§ 119 ff. BGB (Brox/Walker, AT, § 18 Rdnr. 1). Arbeitsrechtlich bedeutsam sind vor allem der Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft der Person und die arglistige Täuschung. Aufgrund der Natur als Dauerschuldverhältnis kann bei einem Arbeitsvertrag eine Anfechtung wegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) ausgeschlossen sein, wenn die Rechtslage des Getäuschten im Zeitpunkt der Anfechtung nicht mehr beeinträchtigt ist.
(1) Zu einer Anfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB berechtigt ein Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Vertragspartners . Als Eigenschaften des Arbeitnehmers kommen z. B. dessen Vorbildung, berufliche Fähigkeiten, Gesundheitszustand, Zuverlässigkeit oder Vertrauenswürdigkeit in Betracht. Erheblich ist die Eigenschaft jedoch nur, wenn sie in unmittelbarer Beziehung zum Inhalt des Arbeitsvertrags steht (z. B. HIV-Infektion bei einer Operationsschwester).
Vorstrafen sind keine Eigenschaften des Arbeitnehmers; aber sie lassen auf dessen Eigenschaften schließen. So sprechen im Fall gdie Vorstrafen wegen Diebstahls für mangelnde Ehrlichkeit; diese Eigenschaft wird bei einer Einstellung als Kassiererin im Verkehr als wesentlich angesehen. Dagegen ist das Verhalten im Straßenverkehr für die Tätigkeit als Kassiererin unerheblich.
Die Schwangerschaft ist keine verkehrswesentliche Eigenschaft im Sinne des § 119 Abs. 2 BGB, da sie kein Dauerzustand ist (BAG AP Nr. 15 zu § 123 BGB; Fall g). Ohnehin würde eine Anfechtung dem Sinn des MuSchG widersprechen; denn sie würde zur Entlassung der Schwangeren wegen der Schwangerschaft führen, was das Gesetz (vgl. § 9 MuSchG) gerade verhindern will. Eine Anfechtung wegen Schwangerschaft wäre überdies eine unzulässige Benachteiligung aus Gründen des Geschlechts (§§ 1, 7, 3 Abs. 1 Satz 2 AGG).
Im Fall gkann der Vertrag also nur wegen Irrtums über die Ehrlichkeit der B nach § 119 Abs. 2 BGB angefochten werden.
191(2) Vor der Einstellung eines Arbeitnehmers wird diesem im Bewerbungsverfahren in der Regel eine Reihe von Fragen vorgelegt. Im Hinblick auf die Anfechtbarkeit des Vertragsschlusses wegen arglistiger Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB ist es wichtig, welche Fragen dem Bewerber zulässigerweise gestellt werden dürfen. Es geht also um den Umfang der „Offenbarungspflicht“ des Arbeitnehmers, die nur bei zulässigen Fragen besteht. Das sind solche, die mit dem Arbeitsplatz und der zu erbringenden Leistung in einem Sachzusammenhang stehen. Dabei ist das Interesse des Arbeitnehmers an der Wahrung seiner Persönlichkeitsrechte (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) gegen das Interesse des Arbeitgebers (unternehmerische Freiheit, Art. 12 Abs. 1 GG) abzuwägen, sich ein verlässliches Bild über die fachliche und persönliche Eignung des Bewerbers für diesen Arbeitsplatz zu machen.
Der Schutz der Arbeitnehmerinteressen wird dadurch gestärkt, dass Personalfragebögen der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegen (§ 94 Abs. 1 BetrVG; vgl. Rdnr. 1122).
192Ein Anfechtungsrecht wegen arglistiger Täuschung setzt zunächst eine Täuschungshandlung voraus. Diese kann in einem positiven Tun (z. B. unwahre Beantwortung von Fragen) oder – wenn eine Pflicht zur Aufklärung gegeben ist (z. B. Verschweigen einer chronischen Krankheit, welche die Arbeitsleistung dauerhaft unmöglich macht) – in einem Unterlassen bestehen. Die Arglist ist im Rahmen des § 123 BGB gleichbedeutend mit vorsätzlichem Handeln.
Die Täuschung muss zudem widerrechtlich sein (Brox/Walker, AT, § 19 Rdnr. 6). Zwar verlangt der Wortlaut des § 123 BGB die Widerrechtlichkeit nur in der Drohungsvariante. Dies liegt jedoch daran, dass der historische Gesetzgeber davon ausging, jede arglistige Täuschung sei widerrechtlich. Die im Folgenden besprochenen Fälle zeigen allerdings, dass eine Täuschung u. U. durchaus gerechtfertigt sein kann, so dass im Wege der teleologischen Reduktion das Merkmal der Widerrechtlichkeit auch im Falle der arglistigen Täuschung zu prüfen ist.
Stellt der Arbeitgeber dem Stellenbewerber vor der Einstellung eine unzulässige Frage (z. B. nach im Strafregister bereits gelöschten Vorstrafen), kann der Bewerber die Beantwortung verweigern oder wahrheitsgemäß antworten, also die Vorstrafen angeben; in beiden Fällen wird er regelmäßig die Stelle nicht bekommen. Die Chance, eingestellt zu werden, hat er nur, wenn er die unzulässige Frage wahrheitswidrig beantwortet. Wird er daraufhin eingestellt, kann der Arbeitgeber nicht mit Erfolg wegen arglistiger Täuschung anfechten. Die Anfechtung scheidet aber nicht mangels Arglist (so BAG AP Nr. 2 zu § 123 BGB, AP Nr. 15 zu § 123 BGB) aus. Vielmehr fehlt es an der Widerrechtlichkeit der Täuschung. Der Arbeitgeber darf also nur auf zulässige Fragen eine wahrheitsgemäße und vollständige Antwort erwarten, bei unzulässigen Fragen hat der Arbeitnehmer ein „Recht zur Lüge“.
193Seit Inkrafttreten des AGG sind Fragen, die an eines der in § 1 AGG aufgeführten Merkmale anknüpfen, in erhöhtem Maße auf ihre Zulässigkeit zu überprüfen (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG – Zugang zur Erwerbstätigkeit; dazu Däubler/Bertzbach, AGG, § 7 Rdnr. 20 ff.; Wisskirchen/Bissels, NZA 2007, 169). Fragen nach Diskriminierungsmerkmalen können Indizien i. S. des § 22 AGG sein und somit zu einer Umkehr der Beweislast zulasten des Arbeitgebers bei Entschädigungsansprüchen führen (s. Rdnr. 220). Nach Unterzeichnung des Arbeitsvertrags bestehen weitergehende Fragemöglichkeiten des Arbeitgebers. Ausführlich zu der rechtlichen Ausgestaltung des AGG siehe Rdnr. 374 ff.
194Die Frage nach den Vorstrafen einer Kassiererin wegen begangener Vermögensdelikte ist zulässig, nach denen wegen begangener Verkehrsstraftaten dagegen mangels Erheblichkeit für den Arbeitsplatz unzulässig ( Fall g). Ist die Vorstrafe allerdings nicht in ein Führungszeugnis aufzunehmen (unter anderem Geldstrafe von nicht mehr als 90 Tagessätzen, s. im Einzelnen § 32 Abs. 2 BZRG), so wird dem Arbeitnehmer das Recht in § 53 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 BZRG zugestanden, solche Verurteilungen auch dem Arbeitgeber gegenüber zu verschweigen (vgl. § 53 BZRG).
195Fragen nach einer bestehenden Schwangerschaft wurden zunächst nur unter dem Gesichtspunkt diskutiert, ob dem zur Vertragsfreiheit des Arbeitgebers gehörenden Interesse an einer umfassenden Information über die Stellenbewerberin oder dem aus dem Persönlichkeitsrecht der Bewerberin folgenden Interesse am Schutz ihrer Intimsphäre der Vorrang einzuräumen ist. Das BAG (NZA 1986, 739) vertrat zeitweise eine differenzierende Ansicht: Eine unzulässige geschlechtsbedingte Benachteiligung sollte nur vorliegen, wenn sich auch Männer um denselben Arbeitsplatz beworben hatten, nicht dagegen bei einem rein weiblichen Bewerberkreis, weil dann eine Schwangere nur gegenüber Kandidatinnen desselben Geschlechts benachteiligt werde. Diese Lösung war sachwidrig und führte zudem bei nachträglichen Änderungen im Bewerberkreis zu Schwierigkeiten. Der EuGH hat zutreffend die Frage nach einer bestehenden Schwangerschaft wegen Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz nach der Richtlinie 76/207/EWG generell für unzulässig erklärt (EuGH NJW 1991, 628), eine Entscheidungspraxis, der sich das BAG angeschlossen hat (NZA 1993, 257).
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