1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 »Hab ich gehört.« Markus lockerte die Klettverschlüsse seiner Jacke. »Wird ein großes Ding heute.« Er klopfte Konstantin auf die Schulter. »Aber wie immer werden wir das hinbekommen. Wirst sehen. Heute Abend sind wir wieder daheim.«
Konstantin nickte dankbar. Sie waren eine eingeschworene Gemeinde beim SEK in Göppingen, sie mussten sich aufeinander verlassen können, einander Mut zusprechen. Er konnte das gut, aber heute, da hatte er ein ganz mieses Gefühl.
***
Das Tuch an seinem Hals kratzte, und er verspürte Durst. Seit die Männer den Hörsaal A 600 gestürmt hatten, drückte sein Magen unangenehm. Ob es Hunger war? Er hatte nichts angerührt am Morgen. Sabine würde sich wundern, wenn sie denn mal aufstand. Er krümmte sich leicht unter einem weiteren Magenkrampf zusammen. Manchmal hatte er sich kurz vor einem unerfreulichen Urteil so gefühlt. Und neulich war der Krampf gekommen, als er von der Vergewaltigungsserie gelesen hatte. Ein viertes Opfer. Und dann waren sie wieder da, die böse Erinnerung und das schlechte Gewissen.
Der Hörsaal kam ihm plötzlich sehr warm vor. Vor seinen Augen begann es zu flimmern. Er sah ein Schachspiel vor sich, einen Turm, der im Mondlicht ins Wanken geriet. Er sah den Schattenwurf des Königs auf den schwarzen und weißen Feldern. Eine Dame setzte sich wie von Geisterhand in Bewegung und kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Er zuckte zusammen und rieb sich unwillkürlich die Augen.
Ich muss die Nerven behalten. Ich bin kein unbeweglicher König, keine Figur in einem Schachspiel.
Bei der Urteilsverkündung blieb alles an den Richtern hängen, früher an ihm, egal, wie offensichtlich er lediglich der Überbringer der Botschaft gewesen war, die letztendlich nur auf den zuvor von den Ermittlern erworbenen Fakten basieren durfte. Bei den Menschen blieb nur der Richterspruch in Erinnerung. Sie überlegten nicht, wie Polizei und Staatsanwaltschaft im Vorfeld gearbeitet hatten. Bei jener Vergewaltigungsserie, die Konstanz seit über einem Jahr in Atem hielt, war es bislang noch nicht einmal zu einer Anklage gekommen.
Er wusste selbst nicht, was an jenem Tag in ihm passiert war, vielleicht war es das Zusammentreffen der persönlichen Frustration und der Unfähigkeit, eine solche Niederlage hinzunehmen. Vielleicht hatte er auch in diesem Moment zu seiner Frau auf der anderen Seite des Tisches gesehen und sich gefragt, wer dieser Mensch noch war außer der Hülle eines vergangenen Glücks. Vielleicht, und das erschien ihm im Moment das Naheliegendste, konnte er Ungerechtigkeit einfach nicht ertragen, vor allem, wenn sein Gefühl ihm die ganze Zeit einflüsterte, dass er dazu befähigt war, die Gerechtigkeit wiederherzustellen. Wenngleich, auch das wusste er, sein Gefühl da durchaus anmaßend war.
Jetzt saß er hier in der Universität und fragte sich, was bewaffnete Männer mit seinem Gerechtigkeitsgefühl zu tun hatten. Sechs Männer mit Maschinengewehren und einem –
Sechs Männer?
9 Uhr bis 10 Uhr
Wieder warf Sito einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war eine Minute nach neun, der Konferenzraum gefüllt mit angespannter Stille. Seit knapp zwanzig Minuten wussten sie von der Geiselnahme. Zwischenzeitlich hatten die Geiselnehmer über die Facebook-Seite der Stadt mitgeteilt, dass sich in der Uni Männer verteilt hätten und jegliche Verhandlungen hinfällig wären, wenn Polizei auftauchen würde. Via YouTube gab es ein kurzes Video, in dem zwei Maskierte dieselben Informationen verlasen.
Der Busverkehr an die Uni war gestoppt, die Zufahrten über die Universitätsstraße und die Eggerhaldestraße sowie von der Bushaltestelle auf der Mainaustraße waren gesperrt. Die Geiselnehmer hatten auch dafür genaue Vorgaben durchgegeben, jedes Zuwiderhandeln habe Konsequenzen.
Die Tür ging auf, und Bürgermeister Jochen Auweiler betrat den Raum. Sein Kopf war hochrot, das Hemd spannte über seinem fülligen Bauch. Geräuschvoll ließ er seinen Notizblock auf den Tisch fallen, rückte den Stuhl weiter nach hinten, sodass er sich setzen konnte.
Mit im Raum waren außer Sito noch Marc Busch, die Kommissare Johannes Goffer und Martin Kaiser sowie Karl Zimmermann, Polizeipräsident Simon Jäger und Staatsanwalt Pierre Ruger. Sito nickte Busch zu, der erhob sich und ließ die Facebook-Seite der Stadt auf der Leinwand vor ihnen aufscheinen.
»Um acht Uhr einundvierzig posteten die Geiselnehmer, dass sie das Audimax der Universität gekapert haben. In den letzten zwanzig Minuten kam eine weitere Nachricht, dass keine Polizei zur Universität kommen solle, andernfalls würden wir das Leben der Geiseln riskieren. Selbige Nachrichten laufen über YouTube und Twitter. Von der Dame im Sekretariat wissen wir, dass etwa fünfzig Studenten in der Vorlesung sein müssten. Gehalten wurde die Vorlesung übrigens von unserem Kollegen Roman Enzig.«
Ein Raunen ging durch den Raum. Polizeipräsident Jäger beugte sich vor. »Wir haben einen Kollegen unter den Geiseln? Wieso erfahr ich erst –«
»Jetzt wissen Sie es«, erklärte Sito und gab Busch ein Zeichen fortzufahren.
»Wir wissen nicht, wie viele Studenten sonst noch an der Universität sind, auch nicht, von wie vielen Geiselnehmern wir ausgehen müssen. Es sind Semesterferien, und es ist sehr früh. Vermutlich haben wir noch etwa zweihundert Zivilisten an der Uni.«
»Können wir nicht einfach die Seite blockieren?«, fragte Auweiler.
»Und dann? Dann überlassen wir sie alle ihrem Schicksal?«, herrschte Staatsanwalt Ruger den Bürgermeister an und schüttelte den Kopf.
Auweiler wehrte ab. »Darum geht’s doch nicht, aber offensichtlich brauchen die ja ein Medium, wenn sie keines haben, dann überlegen sie sich … Es gibt doch die Möglichkeit, das Internet irgendwie zu stören, oder?« Die letzte Frage richtete sich an Sito.
»Die gibt es, aber das wäre jetzt sehr unklug. Wir müssen erst einmal wissen, was die vorhaben.« Er starrte auf seinen Block, auf dem alle Mitteilungen der Geiselnehmer gesammelt waren. »Außerdem haben sie geschrieben, dass dies ihr Kommunikationsweg wird.«
»Dies?« Auweiler schnaubte. »Meine Website?«
»Ich glaube, sie meinten eher Facebook«, erklärte Zimmermann und ließ seine Finger knacken. »Hashtag GeiselnahmeUniversität.«
»Facebook als Medium bei einer Geiselnahme, hat man so was schon mal gehört?«, warf Kaiser in den Raum.
Sito verneinte.
»LKA und SEK sind informiert?«, fragte Jäger.
Sito nickte. »Selbstverständlich, sind unterwegs, aber das wird dauern. Das MEK ist ebenfalls unterwegs. Teile der Spezialeinheit sind bereits vor Ort für die Personenüberwachung rund um den Klimagipfel. Vorerst sind wir, was die Geiselnahme angeht, auf uns gestellt, und Heinrich Wint aus Gaienhofen ist auf dem Weg. Er wird uns unterstützen.«
Ruger hob fragend die Hände in die Luft. »Wint? Gaienhofen? Wie das?«
»Er war beim LKA. Ursprünglich erfahrener Vermittler bei Geiselnahmen. Jetzt sitzt er in Gaienhofen. Ist ausgestiegen, aber ein guter Mann. Er ist wie gesagt bereits unterwegs. Wir rechnen in der nächsten halben Stunde mit ihm«, erklärte Sito.
»Worum es nun geht …«, begann Busch, und ein anderes Bild erschien hinter ihm an der Wand. Es zeigte die junge Sibylle Hundhammer, dunkelbraune Locken zierten das junge Gesicht, ein breites Lachen darauf, als läge ihr die ganze Welt freundlich zu Füßen.
»Was hat sie mit der Geiselnahme zu tun?«, fragten die Kollegen Goffer und Kaiser gleichzeitig. Auch Auweiler rückte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Es gab ein Quietschen auf dem Fußboden.
Sito fuhr sich mit den Fingerspitzen über die Narbe an seiner linken Schläfe. »Wir haben heute einen Großeinsatz zum Schutz von Sibylle Hundhammer. Sollten Sie in letzter Zeit die sozialen Netzwerke konsultiert haben, dann dürfte Ihnen aufgefallen sein, dass die Hetze gegen Hundhammer immer mehr zunimmt. Kollege Zimmermann beobachtet das seit Wochen für uns auch im Hinblick auf die Maßnahmen während der heutigen Demonstration.«
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