Mein Hund war beim Spaziergang durch den Wald auf sie gestoßen. Wie immer lief er mehrere Meter vor mir her, sodass ich mit einigen Schritten Abstand nur beobachten konnte, wie er kurz an etwas auf dem Boden roch und dann weiter trottete. Ich blieb stehen, erkannte die Maus und hockte mich vor sie, ließ sie nicht aus den Augen. Ich konnte nicht sofort erkennen, ob sie tot war oder lebte, zumindest so gerade noch. Vorsichtig berührte ich die Tasthaare an ihrer Nasenspitze. Keine Reaktion. An ihr gab es keinerlei äußerlich erkennbare Verletzungen, keine Wunden oder Bissspuren, wirklich nichts, was etwa auf einen Angriff durch ein anderes Tier hingedeutet hätte .
Etwas an der Situation ließ mich plötzlich unsicher werden. Mir fiel auf, wie sehr ich mich für so vieles schämte, was ich gerade dachte – dass ich mich überwinden musste, sie zu berühren, aufgrund einer diffusen, frühkindlichen, vielleicht nie wirklich ausgesprochenen, aber auch deswegen umso wirkungsvolleren Regel: Fasse nichts Totes an. Ich schämte mich auch, als ich einige Blüten und Zweige neben ihr drapierte. Was sollten andere Waldspaziergänger denken, wenn sie das sahen? Kein Grab, eher eine Aufbahrung der Leiche. Dann wieder: Die Scham, sich zu schämen, es war doch gut gemeint. Aber wie war es eigentlich genau gemeint?
Ich bin aufgewachsen in einer Tradition, in der solch eine Situation stets von den schulmeisterlichen Worten eines Großvaters begleitet wurde, die im getragenen Ton einer Moll-Melodie über den Lauf der Dinge, das Geborenwerden und Sterben, Entstehen und Vergehen sinnierten. Dieser Großvater ist prototypisch, wir alle kennen ihn. Er begleitet seine Enkelkinder durch den Wald, lehrt die Zusammenhänge der Natur, er spricht die Vertonungen der endlosen Tierverfilmungen, kommentiert zurückgelehnt das Zerfleischen eines Zebras durch afrikanische Löwen. Noch während sie ihre Reißzähne in das zuckende Fleisch rammen, spricht der Großvater die tröstenden Worte, die große Erzählung vom Kreislauf der Natur. Bis heute weiß ich, dass es mir und allen aufgegeben ist, einen Reim darauf zu finden. Während ich auf dem Waldboden neben der toten Maus in der Hocke saß, fand ich keinen. Bestenfalls war da ein kleiner Binnenreim, die Wiederholung von etwas Größerem, das noch fehlte. Die großen Erzählungen der Natur ließen mein Bestattungsflorilegium tatsächlich wie das Werk eines weltfremden Kauzes erscheinen. Ich war in diesem Moment sicher: Wenn ich mich umdrehen würde, gerade in diesem Moment, ich müsste dort die zigtausend Vorgänger dieser Maus sehen, ihre Myriaden an längst toten Verwandten. Wie eine Mauer würde die Masse der Toten hinter mir jenes Recht einklagen, das ich nun jener einen winzigen Maus und ihrem Tod zugestand .
Die Individuen in dieser Mauer schienen dem Großvater Recht zu geben. Sie bezeugten, dass auch der Aufstand gegen den Naturverlauf einstmals vor eben dieser Natur zu kapitulieren hätte. Ich habe mich an diesem Tag nicht umgedreht. Hermes, mein Hund, war daran wie so oft schuld, aber es war auch meine Entscheidung. Und es war das makellose Fell der kleinen Maus. Erst als wir den Wald bereits hinter uns hatten, fiel es mir plötzlich ein: Corpus incorruptum – der unverweste Leichnam – ist ein Kriterium kirchlicher Heiligsprechungsverfahren. Die kleine Maus war dem Kreislauf der Natur nicht entkommen, sie war ganz eindeutig tot. In ihrem perfekten Fell aber sah ich den Beginn einer neuen, unerzählten Geschichte: vom schlimmsten Raubtier schlechthin, das seine Beute urplötzlich verschont .
Religion beginnt im Ernste doch erst dort,
wo aller Grund vorhanden scheint, sie aufzugeben.
JOSEPH BERNHART
„Es hat den Tod als Tod weder vor sich noch hinter sich“
Tiere sterben. Aber erst seit Kurzem, könnte man meinen: Es ist noch nicht lange her, dass die deutsche Sprachkonvention diesen Ausdruck fein säuberlich vermied. Tiere konnten zwar verenden oder vergehen – das Sterben hingegen war zumindest dem Begriff nach dem Menschen vorbehalten. Schon häufiger habe ich mich gefragt, ob diese linguistische Version des eschatologischen Vorbehalts möglicherweise tatsächlich dafür Sorge trug, dass dem einen oder anderen das Sterben leichter fiel – wenn der Tod nahte, eine letzte Unruhe über den Menschen kam, aber zumindest dies eine als Hoffnung blieb: Ich bin kein Tier. Dass der Mensch stirbt, das Tier aber verendet, heißt ja schließlich: Der Tod bedeutet beiden etwas grundsätzlich anderes. Das Sein der Tiere ver- endet an der Todesgrenze, hinter ihm schließt sich für immer eine Tür. Menschen sterben – man höre nur dem Rhythmus der beiden Wortsilben nach: Ein anfängliches Stolpern, ein kurzes Innehalten ist ihnen der Tod – st…! – aber es folgt dann doch noch etwas, und die Tür fällt niemals so ganz ins Schloss, weil der Mensch immer noch einen Fuß dazwischen bekommt. Unsere Sprache hat lange keinen Zweifel daran gelassen, dass Menschen und Tiere ein Abgrund trennt. Tiere werden geworfen , sie fressen, vegetieren vor sich hin, werden erlegt oder verenden schließlich.
Arthur Schopenhauer hat als einer der ersten kritisch auf diese theriophobe, also tierfeindliche Färbung unserer Sprache hingewiesen, das war vor knapp 200 Jahren. 1Und in der Tat gibt es gute Gründe, eine derartige Sprachnorm zu kritisieren, die sich in immer neueren Variationen bis heute durchhält. Eine solche Kritik hat es allerdings auch mit mächtigen, bis heute wirksamen Gegenstimmen zu tun: Der deutsche Philosoph Martin Heidegger etwa hat mit Vehemenz jenen fundamentalen Unterschied zwischen Tieren und Menschen stark machen wollen – und dies gerade an den vermeintlich unterschiedlichen Arten ihres Sterbens festgemacht:
„Die Sterblichen sind die Menschen. Sie heißen die Sterblichen, weil sie sterben können. Sterben heißt: den Tod als Tod vermögen. Nur der Mensch stirbt. Das Tier verendet. Es hat den Tod als Tod weder vor sich noch hinter sich.“ 2
Mit diesen Worten bringt Heidegger den aus seiner Sicht entscheidenden Unterschied zwischen Tieren und Menschen auf den Punkt: Während der Tod des Menschen metaphysische Qualität besitze, sei der Tod der Tiere bedeutungslos. In seinen knappen, apodiktischen Sätzen scheint er diesen Unterschied mehr zu behaupten denn argumentativ zu belegen. Gefährlich ist seine Sichtweise dennoch: Wer wie Heidegger vom Verenden der Tiere spricht, ihrem Sterben also lediglich eine chronologische Bedeutung, aber keine darüber hinausreichende existentielle oder gar metaphysische Relevanz zuerkennen will, verwehrt ihnen letztlich ihren Tod. Darin dürfte eine besonders perfide Strategie liegen, das Leben der Tiere zu diskreditieren – jener Tiere, die einerseits immer noch Sinnbild einer menschengemachten Vernichtung sind, und denen andererseits auch im Gefolge einer Sprachnorm á la Heidegger nicht zugestanden wird, wirklich zu sterben. Die Moderne wird sich daher zu Recht die Frage gefallen lassen müssen, ob sie überhaupt noch in der Lage ist, den massenhaften und industriellen Tod der Tiere zu glauben, ihn wirklich als jenes Grauen anzuerkennen, das er ist.
„Statt Todeswirrnis – Reinlichkeit und Ordnung“
Allen Einflüsterungen über das bloße Verenden der Tiere zum Trotz gibt es in unserer Erfahrung eben doch immer wieder diesen Blick toter Tiere, ihren bloßen Anblick. Eine urtümliche Erschütterung, die wir nur zu gern von uns abschütteln würden – denn der Blick sterbender Tiere vermag uns zu berühren, an allen abstrakt-rationalen Erwägungen vorbei trifft er uns doch immer wieder ganz unvermittelt. Die polnische Schriftstellerin Wisława Szymborska hat diesem Anblick toter Tiere in ihrem Gedicht „Von oben betrachtet“ poetisch Ausdruck verliehen. 3Auch ihr Blick als Dichterin ist also zunächst ein Blick von oben, aber doch nicht jener abstrakt-distanzierte Blick eines Martin Heidegger. „Ein toter Käfer liegt auf dem Feldweg“ heißt es in Szymborskas Gedicht zunächst ganz abgeklärt und sachlich, die Beinchen des Käfers liegen sorgfältig, fast noch heile und scheinbar intakt „über dem Bauch gekreuzt“. Und doch: Es ist gerade dieser Anschein von Ordnung, der das Grauen des Todes überhaupt erst in seiner Tiefe zugänglich macht. „Die Trauer teilt sich nicht mit“, wendet das lyrische Ich zunächst noch gegen dieses erste Erschrecken ein, ihre Reichweite sei lediglich „streng lokal von der Quecke zur Minze“, gerade weil der Tod des Tieres derart ordentlich anmutet: „Statt Todeswirrnis – Reinlichkeit und Ordnung.“ Dann erkennt das lyrische Ich aber doch, dass dieses scheinbar gezähmte Grauen, das die Ordnung des tierlichen Todes anzudeuten scheint, dem säuberlich trennenden Denken des Menschen entspringt: Die Tiere
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