Ulrike Quast
WENN WIR
DIE MASKEN
FALLEN LASSEN
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2016
Bibliografische Information durch die Deutsche
Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek
verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.
Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte bei der Autorin.
Umschlaggestaltung Jochen Stankowski
(Grafikdesigner)
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
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Titel Ulrike Quast WENN WIR DIE MASKEN FALLEN LASSEN Engelsdorfer Verlag Leipzig 2016
Impressum Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte bei der Autorin. Umschlaggestaltung Jochen Stankowski (Grafikdesigner) Hergestellt in Leipzig, Germany (EU) www.engelsdorfer-verlag.de
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Die Tür fiel ins Schloss. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Lena war gefangen. Gefangen in einem endlos langen Gang. Es roch nach abgestandenem Kaffee. Und es war düster. Nur spärliches Licht drang durch die verglasten Türen hindurch. Unzählige Türen, die in unzählige Räume führten. In der Mitte des Gangs stampfte eine riesige Frau über den Korridor. Sie verschwand im gegenüberliegenden Zimmer. Offenbar hatte sie das Mädchen nicht bemerkt. Sonst hätte sie sich darüber wundern müssen, dass Lena seit geraumer Zeit am Eingang stand. Wie eine Säule. Eine Säule, die mit großen Augen vor sich hin stiert.
Äußerlich sah man Lena keine Regung an. Wie sollte man auch? Lena beherrschte die Situation. Vollkommen. Denn sie hatte diese Szene in Gedanken immer wieder durchgespielt. Bestimmt hundertmal. – Sie klopft an die Tür mit der Aufschrift „Hauptkommissarin“. Dann drückt sie die Klinke hinunter und betritt den Raum. Selbstbewusst, cool. Sie schließt die Tür. Mit festem Druck. Die Kommissarin bietet ihr einen Platz an. Doch Lena bleibt vor dem Schreibtisch stehen. „Danke, nein.“ – Ja, so würde es laufen. Lena hält Blickkontakt. Sie sieht von oben auf die Kommissarin herab. Auf keinen Fall schaut sie zu Boden. Magenschmerzen? Nie und nimmer. Hämmerndes Pochen gegen die Schläfen? Keine Spur. Und diese bescheuerten Gedanken? Gedanken, die sie hin und her gewälzt hatte – seit Tagen schon: „Soll ich ….wirklich….?“, „Aber vielleicht doch lieber nicht…“, „Was passiert dann?…. mit ihm…“ – Am besten abschalten. Knopfdruck, graue Zellen aus. Gedankensperre. Für Zweifel war nun ohnehin kein Platz mehr in ihrem Kopf.
„Du tust das Richtige“, hatte ihre Mutter sie gestern noch einmal ermuntert. „Verstehst du? Du musst! Du musst es tun!” Und auf Mutters Stirn vertiefte sich die Falte zwischen den Augenbrauen. Wie ein in die Haut geschnittenes Ausrufezeichen. Das Ausrufezeichen war danach in ein schmerzhaft verzerrtes Gesicht übergegangen. Lenas Mutter bekam Migräne. Ausgerechnet am Abend vor diesem ätzenden Tag. Heute Morgen blieb ihre Mutter im Bett liegen. So war Lena sich selbst überlassen. Wie so oft, wenn Mutters Migräne ausbrach. Und die Migräne kam ohne Vorwarnung. Lena fühlte sich dann jedes Mal irgendwie schuldig. Als ob sie etwas tun müsste, um ihre Mutter zu befreien. Lena, die Retterin. Früher, wenn ihre Mutter manchmal mit geschlossenen Augen leise wimmernd dalag, ließ Lena ihre Handflächen über das Gesicht der Mutter kreisen. Um die bösen Geister zu beschwichtigen. Bis ihre Mutter es bemerkte und sie wegjagte. Nein, nicht ihre Mutter brüllte sie an, sondern die bösen Geister. Damals.
Und heute? Lena glaubt an keine Geister mehr. Trotzdem. Das, was sie heute vorhat, ist sicher nur gerecht. Es ist das Mindeste, was sie tun kann. Was sie für ihre Mutter tun kann. Lena ist es ihr schuldig. Schuldig. „Schuld–ich.“ Und er? Er kann ihr gestohlen bleiben. Sie hasst ihn! Von ganzem Herzen hasst sie ihn! Eigentlich hatte sie ihn aus ihrer Erinnerung ausgelöscht. Er existierte nicht mehr für sie. Auch seinen Namen entfernte sie. Sie warf ihn weg. Zuerst schrieb sie ihn mit dicken schwarzen Buchstaben auf ein großes Blatt Papier. Dann zerfetzte sie es in kleine Schnipsel und ließ sie in den Papierkorb segeln. Ein Schnipsel nach dem andern. Weg.
Doch nun musste Lena ihn wieder hoch holen. Sie musste ihn aus dem Gedächtnis hervorkramen. Eigentlich war es ganz leicht. Sein Bild war sofort da. Er – wie er redete. Wie er Lena in den Arm nahm, wenn sie traurig war. Wie er nachts nebenan wie ein Walross schnarchte und morgens den Espresso überkochen ließ. Und wie er früher Geschichten von stotternden Luftschaukeln und tanzenden Regenschirmen erfand und an ihrem Krankenbett wachte. Manchmal stundenlang. – Schwachsinn. Lena wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Eine Träne der Wut. Der Verachtung. Was sonst?
„Na, nicht so traurig, kleines Fräulein. Wohin willst du denn?“ Plötzlich stand ein dicker Herr vor ihr. Ein Beamter in glattgebügelter Uniform. Er lächelte sie mit schiefem Mund an. Seine Schnurrbarthälften verdrehten sich dabei wie zwei Windmühlenflügel und eines seiner Augen bekam einen Eskimoblick. Lena musste lachen. – „Jetzt lachst du wenigstens. Na, hoffentlich lachst du mich an und nicht etwa aus. Wo sind eigentlich deine Eltern? Sie haben dich doch wohl nicht allein hierher geschickt?“ – „Mutter muss auf meine kleine Schwester aufpassen und Vater ist auf einer Dienstreise“, log Lena. „Cool bleiben“, dachte sie. „Bloß cool bleiben.“ Doch ihr wurde heiß im Gesicht. – „Aber, wer wird denn gleich…?“ – Zum Glück öffnete jemand abrupt eine Tür und rief den Beamten in sein Zimmer. Lena stand wieder allein auf dem Korridor.
Schließlich marschierte sie los. Sie ging von Tür zu Tür. Immer zick zack. Über den Gang und zur nächsten Tür. Die Schilder mit den Aufschriften las sie zweimal durch. Wer konnte schon wissen? – Am Ende übersah sie doch den entscheidenden Namen. So musste sie ihre Odyssee über den Korridor des Polizeiamtes noch einmal von vorn beginnen. – „Umbrecht“. Lena war mit Hauptkommissarin Umbrecht verabredet. Der Name hämmerte gegen ihre Schädelwand: „Umbrecht“, tak-tak-tak, „Umbrecht“. – Wie Unrecht… Endlich! Sie stand vor der gesuchten Tür und klopfte sofort an.
Ohne das „Herein“ abzuwarten, öffnete Lena die Tür. Dann stand sie vor einer jungen Kommissarin mit dick aufgetragenem Wangenrouge. Das dunkelrote, lange Haar floss bis in die riesigen Augen der Beamtin. Grüne Glotzaugen. Auch das noch! Die Kommissarin konnte wahrscheinlich in Lena hineinsehen. Und ihr würde sicher keine falsche Bewegung entgehen. – Ach, was. Lena hatte sich schließlich im Griff. Sie setzte sich aber doch, als ihr die Kommissarin einen Platz anbot. Der Stuhl fühlte sich kalt an. Ganz im Gegensatz zu Lenas Kopf. Lena rückte bis auf die linke vordere Spitze ihres Sitzes. Nur nicht umkippen! Nur nicht umkippen! „Ich bin Lena“, sagte sie leise. „Meine Mutter hat vor einer Woche angerufen.“
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