„Ich weiß.“ Die Beamtin schaute Lena mit ihren Froschaugen an. Dann ließ sie den Blick an Lena entlang gleiten. Einmal nach unten und danach wieder aufwärts. „Was glotzt sie mich so an?“, dachte Lena. „Gleich geh‘ ich.“ – „Du möchtest also Anzeige erstatten. So. so. Ich weise dich aber jetzt noch mal drauf hin: Unser Gespräch wird auf Tonträger aufgezeichnet. Das hat der Kommissar deiner Mutter ja schon mitgeteilt. Dann bist du also damit einverstanden?“ Lena quetschte ein „Ja“ zwischen den Zähnen hervor. – „Na gut. Deine Mutter hat uns ja bereits informiert. … Die Person, gegen die du etwas vorzubringen hast, ist eine Verwandte. Nicht wahr?“ – „Ein Verwandter“, korrigierte Lena. – „Nun ja. Jedenfalls hättest du das Recht der Zeugnisverweigerung. Willst du trotzdem aussagen?“
Jetzt war der Moment da. Jetzt könnte sie nach einem „Nein“ aufstehen und den Raum verlassen. Und nie, nie wiederkommen. Jetzt hatte sie die letzte Chance. Sie würde gehen und das Ganze auf sich beruhen lassen. Sollte ihre Mutter doch nerven. Sollte sie Lena Vorwürfe machen: „Du hast versagt. … Wie so oft. Ich kann mich einfach nicht auf dich verlassen.“ „Ver-sagt, verlassen, Un-recht“, dröhnte es in Lenas Kopf. – „Hat‘s dir die Sprache verschlagen? … Hm… Möchtest du vielleicht ein Glas Wasser oder einen Tee?“ Die Beamtin blickte etwas freundlicher. Sie holte eine Flasche Mineralwasser und ein Glas aus ihrem Schreibtisch hervor. Dann schenkte sie ein und stellte das Glas vor Lena ab. Lena vergaß, sich zu bedanken. Sie nahm einen tiefen Schluck Wasser und hielt eine ganze Weile lang die Luft an. Schließlich spie sie mit einem Atemzug die Worte hervor: „Ich will aussagen.“
Er begegnete ihr. Robert begegnete Katharina. In dem Moment, zu dem Zeitpunkt, als er niemanden kennen lernen wollte. Ein Zufall? Später, als er sich erinnerte, glaubte er nicht mehr daran. Diese Begegnung war vorherbestimmt.
So stand er an jenem späten Vormittag auf dem Bahnsteig in L. Hier hatte er vorerst abgeschlossen. Seine Gastprofessur an der hiesigen Hochschule für Musik war beendet. Vorläufig. Denn Robert wollte wiederkommen. Um die Verlängerung seines Vertrags hatte er bereits gebeten. Nur ein paar Details waren noch zu klären. Doch darum würde er sich später kümmern. Nach dieser Reise. Nach seiner Rückkehr. Roberts kurzer Rückkehr in sein altes Leben. Er hatte sie lange hinausgezögert. Auch noch am Tag zuvor. Die Einladung einiger Musikerfreunde nach seinem Konzert kam ihm da gerade gelegen. Sie feierten bis weit nach Mitternacht. Frühmorgens war er dann zu Fuß in seine Pension gelaufen. Das Packen seiner Reisetasche musste Stunden gedauert haben. Jetzt stand die Tasche neben ihm auf dem Bahnsteig. Obenauf lag der Koffer mit seinem Saxophon. Robert trug alle Dinge bei sich, die er in den nächsten beiden Wochen brauchen würde.
Hier hatte er schon mehrmals gestanden. Hier, auf dem Bahnsteig in L. Genau an dieser Stelle. Am Scheitelpunkt zwischen seinen Welten. An diesem Punkt war er gleichzeitig hier und dort. Dort – in seiner Vergangenheit, in die ihn diese Reise noch einmal führte. Hier – in seiner Zukunft. In seinem neuen Leben, in dem er längst noch nicht angekommen war.
Doch würde er jemals ankommen? Würde er dort wirklich abschließen können? – Fragen. Sie drängten sich auf. Sie schoben sich in Roberts Gedankenwelt. Tag für Tag. Und sie durchbrachen die unruhige Stille der Nacht. Dann fühlst du diesen Stich in der Brust. Als ob es dein Herz durchzuckt. Es spaltet. Er, Robert F., lebte mit einem gespaltenen Herzen. Eine Hälfte schlug in seiner Vergangenheit. Eine Hälfte schlug hier, in seiner Zukunft. Obwohl es einem mitunter so vorkommt, als schlüge das Herz überhaupt nicht mehr. Dann ist da dieses taube Gefühl, dann spürst du gar nichts. Doch wenn er spielte, wenn er seinen Atem hemmungslos in das Saxophon blies, fühlte er sich ganz. Er war eins mit der Musik, eins mit sich selbst. Meistens stellte sich dann dieser Groove in ihm ein. Als taumelten die Sinne vor Glück. Und so pendelte Robert im Auf und Ab seiner Seelenzustände.
„Ich war gestern in Ihrem Abschlusskonzert. Es war großartig! Ich…. bin noch ganz erfüllt von der Musik. Ihrer Musik. Danke.“ – Sie stand plötzlich vor ihm. Hochgewachsen. Hell leuchtende Haare. Mit Augen, die du siehst und nicht vergisst. Augen, die in das Leben eintauchen. In denen sich das Leben widerspiegelt. „Ich bin Katharina“, stellte sie sich vor. Ihr Lächeln war ansteckend. – „Robert. Ja, schön, dass es Ihnen gefallen hat…. Hab ich Sie nicht gesehen? – Ne, wahrscheinlich nicht…. Ich schließe auch meistens die Augen, wenn ich spiele.“
„Sie sahen aus … So … Ich weiß nicht. Na, jedenfalls nicht von dieser Welt.“
„Kennen Sie das? Das ist wie ein Rausch… Aber ich war auch ziemlich gut drauf gestern.“
„Hm, waren Sie…. Und … Ihre Blumen? Sie haben sie wohl vergessen?“
„Welche Blumen? … Ach, die Rosen. Die hab ich meiner Wirtin geschenkt…. Zum Abschied.“
„Kommen Sie denn nicht wieder?“
„Doch…. Ich denk‘ schon.“
Da war es wieder. Ihr Lächeln, das die trüben Gedanken vertrieb. Ein Lächeln – wie eine Morgendämmerung. Oder wie eine rosa Mohnblume. Sind Mohnblumen nicht leuchtend rot?
„Und … was machen Sie so? … Ich meine, wenn Sie nicht gerade auf Bahnsteigen rumstehen.“
„Ich? … Seelen flicken. Jedenfalls …. versuch‘ ich‘s. Ich bin Psychologin…. Oh, kommen Sie. Schnell!“
Der Zug war inzwischen eingefahren. Er stand schon eine Weile lang da. Der Schaffner riss die Wagentür auf und rief Robert und Katharina zu: „Beeilen Sie sich.“ Die beiden stiegen hastig ein. Als sie das Abteil betraten, fuhr der Zug auch schon los. Es gab noch genügend freie Plätze und das wenige Gepäck war schnell verstaut. Robert setzte sich auf einen Fensterplatz. Er saß Katharina gegenüber. So konnte man reden. So konnte man fast gleichzeitig ihre Augen sehen und aus dem Fenster schauen. Draußen ziehen Bilder vorüber: Häuser tauchen auf und rücken in die Ferne. Felder leuchten goldgelb. Weite Rapsfelder, die den Horizont berühren. Ein paar Wolken driften am Himmel vorbei. An den Straßenrändern stehen blühende Bäume. Telefonmasten überbrücken Entfernungen. Wie weit sie wohl reichen?
„Wie weit fahren Sie denn?“, fragte Katharina. – ‚Ob sie Gedanken lesen kann?‘ … „Nach K., in meine alte Heimat.“ – „Aber … Dann geh‘n Sie wohl zurück?“ – „Nein, nur für kurze Zeit. Eigentlich will ich wiederkommen … Jetzt, wo ich Sie kenne…“ – „Aha. Sie kennen mich also. … Das geht aber schnell bei Ihnen.“ – „Manchmal schon…. Und? … Fahren Sie auch nach K.?“ – „Nein. Aber ganz in Ihre Nähe. … Ich mache eine Fortbildung – Hypnosetherapie.“ Robert blickte Katharina irritiert an: „Das ist doch Manipulation, oder?“ – „Manipulation? …. Wie kommen Sie denn darauf.“ – „Na? Und? … Manipulieren Sie nun?“ – „Nein.“ Katharina lachte. „Also, wirklich!…. Sie haben doch nicht etwa Vorurteile?“ – „Na gut. Soll ich ehrlich sein? Ihr Psychologen redet einem doch so lange ein, dass man verrückt ist, bis man‘s selber glaubt. Und ihr könnt Gedanken lesen. …. Oder etwa nicht?“ – „Ich? Natürlich nicht…. Aber … hinter der Fassade … Dort schau‘ ich schon ab und zu mal nach.“
Robert wurde plötzlich still. Die Welt hinter der Fassade. Das andere, das unsichtbare Ich. Er hatte es erfahren. Eines Tages offenbarte es sich. Obwohl es ihm lange verborgen blieb. Weil er es ignorierte. Weil sich das Leben für Robert eher draußen abgespielte. – Seelenpiss. Das war früher nie seine Sache. Bis er sich auf eine Reise nach Innen begab. Unwillkürlich musste er nun an sie denken. Sie, die er begraben hatte. Ganz tief unten im Gedächtnis. Bei den Lebensirrtümern, die man am liebsten ungeschehen macht. Post-phalliatische Amnesie. Oder besser: Man geht an den Ausgangspunkt des Geschehens zurück. Klappe, die zweite. Als ob bereute Lebensentschlüsse mit einem verpatzten Rollenspiel zu vergleichen sind! Oder mit einem Fehlstart.
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