So fand Kimball schließlich unter der Schirmherrschaft der Kirche sein Zuhause.
Und über Jahre hinweg setzte er sich mit seinen besonderen Fähigkeiten dafür ein, rund um den Globus Menschenleben zu retten – zusammen mit den besten Soldaten der Welt, den Rittern des Vatikan.
Aber der Tod von Papst Pius XIII. brachte Papst Gregor an die Macht, der ihren Bund sofort als eine Beleidigung Gottes auflöste.
Nun war Kimball nicht nur ohne ein Heimatland, sondern auch ohne eine Kirche. Und für einen Mann mit seinen Fähigkeiten gab es nicht viel zu tun, abseits von Aufträgen als Söldner, mit denen er jedoch nichts zu tun haben wollte. Also kehrte er unter einem falschen Namen in die Staaten zurück, mit nichts als dem Wunsch nach einem ehrlichen Job.
Der Mann, der früher einmal Kimball Hayden gewesen war, nannte sich nun James Joseph Doetsch, besser bekannt als J.J. Doetsch. Mit seiner neuen Identität, die ihn untertauchen ließ, arbeitete Kimball Hayden nun als einfacher Angestellter in einem Casino und sammelte Müll vom Boden des Casinos auf. Aber da es eine ehrliche Arbeit war, hatte er keine Probleme damit.
Während der vergangenen Monate hatte er sich seine beeindruckende Statur bewahrt und trainierte bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Außerdem übte er weiterhin gewissenhaft den Umgang mit seinen Messern, mit einer täglichen Routine an Bewegungsabläufen, die an Tai Chi erinnerten. Kimball Hayden war vieles nicht mehr, aber zumindest noch sehr tödlich.
»Hey, J.J.«
Kimball, der gerade mit seinen in Latexhandschuhen steckenden Händen eine Mülltüte vom Boden des Casinos aufgehoben hatte, sah auf und erblickte den Floor Manager, der ihm zuwinkte.
»Ja, Boss?«
»Komm mal rüber. Ich müsste da was loswerden.«
Kimball trat zu ihm. Der Größenunterschied zwischen den beiden war beachtlich, als der kleine Mann mit dem teigigen Gesicht zu Kimball hinaufschaute wie ein kleines Kind zu seinem Vater.
»Erinnerst du dich noch an die Sache, die mein Schwager da am Laufen hat? Du weißt schon, diese Cage-Fight-Sache.«
»Hör mal, Louie …«
Der kleinere Mann hob beide Hände. »Hör mich erst einmal an.«
Kimball tat ihm den Gefallen, doch seine gesamte Körpersprache, die grimmig verzogenen Mundwinkel und die abweisend vor der Brust verschränkten Arme verrieten, dass er nicht sonderlich empfänglich sein würde.
»Hör es dir erst mal an«, wiederholte er. »Mehr verlange ich doch gar nicht, Herrgott.«
»Ich höre.«
»Du musst für fünf Minuten in den Ring – nur fünf Minuten – und verdienst im besten Fall fünftausend Dollar.« Dann trat er einen Schritt zurück, um Kimball zu mustern, und streckte die Arme aus, als würde er den hünenhaften Mann vor anderen präsentieren. »Sieh dich doch nur mal an. Du bist ein Monster. Wieso um alles in der Welt verschwendest du deine Zeit hier für einen Hungerlohn, wenn du im Ring so viel mehr Kohle scheffeln könntest?«
»Und ich nehme an, dass du einen Prozentsatz von meinem Gewinn abschöpfst?«
Louie lächelte. »Natürlich. Als dein Manager würde ich fünfzehn Prozent nehmen. Wie hört sich das an?«
Kimball schüttelte den Kopf und drehte sich um.
»Okay, wie wär’s dann mit zehn?«
»Ich kann dich nicht hören, Louie.«
Der dickliche Mann eilte ihm hinterher. »Du vergeudest dein Talent, J.J. Du hast immer gesagt, dass du eigentlich nur einen ehrlichen Job machen willst. Also, hier ist er, direkt vor dir. Die Sache ist absolut sauber, die Kämpfe werden top bezahlt, und auch sonst bleiben keine Wünsche offen. Und ich sage dir, J.J., ich sehe hier sechs- vielleicht sogar siebenstellige Summen im Jahr, wenn du erst mal ganz oben bist.«
»Ich bin nicht interessiert.«
»Du sammelst lieber für den Rest deines Lebens den Müll auf?«
»Das ist nur übergangsweise.«
»Ich verstehe es nicht. Wieso willst du nicht kämpfen?«
Kimball sah ihm fest in die Augen. »Wenn ich kämpfe, Louie, muss es dafür einen Grund geben.«
»Ist Geld denn nicht Grund genug?«
»Für mich? Nein.« Er machte kehrt, um die Abfallbehälter auszuleeren.
»Denkst du wenigstens darüber nach?«
»Ja, klar, sicher«, antwortete er. »Ich werde darüber und auch noch über ein paar andere Sachen nachdenken.«
Louie lächelte, denn er witterte ein Fünkchen Hoffnung. »Das ist toll«, sagte er, und ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Das ist wirklich toll! Sag mir einfach Bescheid, wenn du soweit bist.«
Wie wäre es mit niemals? Kimball erwiderte das Lächeln, hielt aber den Mund.
»In zwei Wochen findet wieder ein Kampf statt«, fügte Louie noch hinzu. »Sag mir Bescheid, J.J. Gib mir einfach Bescheid. Ich hasse es, tatenlos zusehen zu müssen, wie ein Mann wie du sein Leben wegwirft, das ist alles.«
Kimballs Lächeln verschwand.
Louie drehte sich um und lief davon, aber dann rief er Kimball noch etwas nach: »Ein Mann braucht einen Sinn im Leben, J.J. Und bei dir ist es das Kämpfen, das sage ich dir. Ich kann es in deinen Augen sehen. Du bist ein Krieger. Denk‘ darüber nach.«
Kimball warf den Müll in den Abfalleimer und sah Louie nach, wie dieser hinter einer Reihe von Spielautomaten verschwand. Er hatte auf scheinbar prophetische Art den Nagel auf den Kopf getroffen. War es sein Schicksal, zu kämpfen, und nichts anderes im Leben zu haben? Kimball seufzte niedergeschlagen. Ganz egal, wie schnell oder wie weit er auch rannte – das Schicksal empfing ihn an jeder Ecke wieder, um ihm das Zepter des Krieges zu überreichen.
Er sah auf die Uhr. Noch neunzig Minuten, bevor seine Schicht vorüber war.
Er machte sich wieder an die Arbeit.
Nachdem er sich an der Stechuhr ausgetragen hatte, begab sich Kimball in eines der benachbarten Casinos, die ein Parfait-Glas voller Shrimps für 1,99 $ anboten, und aß sie unter dem illuminierten Dach der Freemont State Experience. Während über ihm die Cartoon-Figuren tanzten, plärrte Musik der Rolling Stones und Doors aus den Lautsprechern. Als die Show vorüber war, stellte er sein Glas ab und lief östlich die Freemont Street entlang, eine relativ bedrückende Gegend mit baufälligen Motels, wo die Crackhuren für den nächsten Schuss arbeiteten. Obdachlose hatten sich mit ihren Einkaufswägen voller Schätzen, die für andere Leute nur Müll darstellten, zu kleinen Gruppen versammelt. Weiter östlich, in Richtung Boulder Highway, wo die Motels bereits abbruchreif waren, befand sich Kimballs Einzimmer-Appartment. Das war die einzige Bleibe, die er sich bei seinem Gehalt und ohne zusätzliche soziale Leistungen, die mit zu viel Aufmerksamkeit verbunden gewesen wären, leisten konnte.
Es war Nacht und die Luft war heiß und trocken. Obwohl es hier eigentlich immer heiß war , überlegte er. Höllisch heiß. Und der Geruch der Stadt war überall. Der Schweiß, das Ozon, die Abgase und die stickige Großstadtluft, alles zu einem furchtbaren Gemisch verrührt.
Aber es war sein Zuhause.
Als er in eine Gasse einbog, bemerkte er einen kleinen Kerl, einen Teenager, der neben einer Mülltonne stand. Je näher Kimball dem Müllcontainer kam, umso mehr begann die Person schrittweise auf ihn zuzutänzeln, bis sie ihm schließlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
»Kann ich irgendwas für dich tun?« Kimballs sechster Sinn schaltete sich ein, was bedeutete, dass sie nicht allein waren.
»Hast du was zu Rauchen, Mann?«
»Tut mir leid. Ich rauche nicht.« Kimball versuchte seitlich an ihm vorbeizulaufen, aber der Typ stellte sich ihm erneut in den Weg. Er war weder ein Teenager noch ein ausgewachsener Mann, sondern irgendetwas dazwischen, vielleicht zwanzig Jahre alt.
»Wie sieht’s mit Kohle aus? Geld hast du doch sicher, oder?«
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