»Und die wäre?«
»Eine biblische Prophezeiung zu erfüllen, an die so viele glauben«, erwiderte er.
»Und wie lautet diese? Nicht, dass es mich wirklich interessieren würde.«
»Die Prophezeiung besagt, dass die Bundeslade den Dritten Weltkrieg einleiten könnte. Dass sich die religiösen Gruppen für diese Kiste aus Akazienholz und Gold ohne nachzudenken in einen Krieg begeben würden, nur des reinen Besitzes wegen.«
»Müsste diese historische Nostalgie aber nicht auch für Sie gelten? Schließlich sind Sie ein Moslem.«
»Allahs Wunsch ist es zuallererst, alle Ungläubigen auszulöschen. Diese Lade kann als Auslöser dienen, das zu erreichen.«
Leonid legte den Kopf schräg und blinzelte. »Sie wollen einen Krieg beginnen?«
»Vielleicht keinen Krieg«, sagte Ghazi, »aber eine Möglichkeit, all jene zu zerstören, welche die Lehren Allahs nicht unterstützen wollen. Wenn ein Krieg ausbricht, dann ist das Allahs Wille.«
Der alte Mann zuckte zurück, wenn auch nur ein wenig. »Sie sind ja total durchgeknallt«, sagte er schließlich.
»Religion ist ein heikles Thema«, erläuterte Ghazi weiter. »Die Menschen sind dem Konzept ihres eigenen Gottes so treu ergeben, dass sie leicht wütend werden, sobald es jemand wagt, sich gegen ihre Religion auszusprechen. Aber was wäre, wenn sie nicht in den Besitz von etwas gelangen könnten, dass nach ihrem Glauben rechtmäßig ihnen zusteht, Leonid? Die Feindseligkeiten würden zunehmen, die Gemüter würden sich erhitzen und die Kämpfe beginnen. Und wofür? Für eine goldene Kiste?« Ghazi musterte den alten Mann für einen Moment, bevor er weitersprach: »Jeden Tag sterben Menschen im Namen der Religion«, fügte er hinzu. »Und für sehr viel weniger.«
In einer fließenden Bewegung riss Ghazi die Vorhänge auf, sodass der alte Mann auf Moskau hinausschauen konnte.
Leonid kaute vorsichtig auf seiner Unterlippe herum, dann sah er auf den Roten Platz und die Türme der Basilius-Kathedrale hinaus. Er vermisste sein altes Leben – vermisste, was er einmal besaß. Ghazi schien seine Gedanken zu erraten.
»Kommen Sie mit mir«, spornte er ihn an. »Holen Sie sich zurück, was Russland Ihnen genommen hat. Werden Sie wieder zu jemandem, der etwas verändern kann.«
Der etwas verändern kann. Dieser einfache Satz verfehlte seine Wirkung auf den alten Mann nicht. Die Worte gingen ihm immer wieder durch den Kopf, während er schweigend dasaß und offensichtlich mit sich selbst haderte.
Und dann, nachdem er Ghazi einen Seitenblick zugeworfen hatte, fragte er: »Was soll ich für Sie tun?«
Ghazis Lächeln blühte wieder auf, während er sich nah an Leonid heranbeugte. »Ich möchte von Ihnen nur eine einzige Sache, Leonid.«
»Und die wäre?«
»Ich möchte, dass Sie die Dämonen wieder zurück in die Kiste packen.«
Der alte Mann wusste genau, wovon Ghazi sprach.
Irgendwo über dem Atlantik
Kardinal Bonasero Vessucci saß in der Economy Class und sah durch das Fenster auf den Ozean unter ihm hinab. Weiße Gischt trieb auf Wellen entlang, welche in ihrer stahlgrauen Färbung dem bewölkten Himmel entsprachen, und von draußen prasselte Regen gegen das Fenster, während das Flugzeug am Rand von Turbulenzen dahinritt.
In den letzten Stunden hatte er über vieles nachgedacht, insbesondere über jene Momente, in denen er neben Papst Pius XIII. auf dem päpstlichen Balkon gestanden und mit ihm über viele Dinge beratschlagt hatte, zumeist an sonnenklaren Tagen mit einem strahlend blauen Himmel. Aber um eine Sache kreisten seine Gedanken besonders: Die steinerne Brüstung, welche den Balkon umgab.
Sie war kunstvoll gefertigt worden, das Mauerwerk beinahe anderthalb Meter hoch, was höher als die meisten anderen Geländer war, um als Sicherheitsmerkmal die Benutzer davor zu bewahren, auf das Kopfsteinpflaster darunter zu stürzen.
Wieso also hatte sich Papst Gregor so weit über die Brüstung gelehnt, dass er das Gleichgewicht verlor und fiel, und das auch noch so früh am Morgen? Hatte er jemanden unten vor dem Balkon stehen sehen?
Gedankenverloren rieb er sich übers Kinn. Die Möglichkeit bestand, sinnierte er. Der Mann konnte auch selbst über die Brüstung geklettert sein, um sich danach und als Schande vor Gott willentlich hinunterzustürzen, aber diesen Gedanken verwarf Bonasero sofort wieder. Oder man hatte ihn gestoßen. Doch auch da blieben Zweifel angebracht, denn das hätte bedeutet, dass Gregor ermordet worden war.
Dennoch nagte da etwas an ihm, irgendwo unter der Oberfläche, obwohl die einhellige Antwort der untersuchenden Stellen lautete, dass es sich um einen furchtbaren Unfall handelte, und damit alle anderen Möglichkeiten von vornherein und ohne weitere Erklärungen ausschieden.
In dem abschließenden Bericht würde also stehen, dass Papst Gregor durch die Folgen eines Sturzes ums Leben kam. Und das mochte sogar stimmen, überlegte Bonasero, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Aber das, was den Sturz herbeigeführt hatte, war es, was ihm Sorgen bereitete.
Der Kardinal schloss die Augen, lehnte sich in seinem Sitz zurück und wartete mit einem wiederkehrenden Gedanken auf die Landung in Rom: Was die Todesursache des Papstes anbelangte, war das letzte Wort noch nicht gesprochen.
Da war er sich sicher.
Moskau, Russland
Es war Nacht. Der alte Mann stand vor den weit aufgezogenen Vorhängen vor dem Fenster seines Apartments, durch welches er das wundervolle Lichtermeer erblicken konnte, mit dem die Basilius-Kathedrale angestrahlt wurde.
Er hatte sich einverstanden erklärt und Ghazi versprochen, die Dämonen wieder zurück in die Bundeslade zu packen. Dabei war er weder ein Magier noch ein Zauberer. Er konnte noch nicht einmal ohne dieses brennende Gefühl pinkeln gehen, welches ihm noch größere Schmerzen verursachte als die Arthritis, die seine Knochen besonders bei diesem kalten russischen Wetter plagte.
In Wirklichkeit hatte Ghazi recht gehabt, überlegte er. So schön der Blick aus seinem Fenster hinaus auf die angeleuchteten bunten Türme der Kathedrale auch sein mochte – sein Mütterchen Russland würde nie wieder zurückkehren.
Gegen Ende des Kalten Krieges war Leonid Sakharov einer der wegweisenden Forscher auf dem Gebiet der Nanotechnologie und vielen von Russlands brillantesten Wissenschaftlern um Jahre voraus gewesen. Mitte der Achtzigerjahre, als die Nanotechnologie noch in den Kinderschuhen steckte, war den russischen und amerikanischen Militärführern klar geworden, dass Nano-Bots oder Nano-Waffen die Zukunft des Wettrüstens darstellten und weitaus verheerende Waffen als auf nuklearer Basis hervorbringen würden. Milliarden programmierter Moleküle, unsichtbar, unaufhaltsam und ohne dass spezielle Ausrüstung nötig würde, um sie herzustellen, könnten dem Militär auf vielfältige Art unschätzbare Dienste erweisen.
Sakharovs Aufgabe bestand hauptsächlich darin, Nano-Scouts zu entwickeln – unsichtbare und unbemerkt agierende Roboter, die so klein waren, dass sie imstande waren, Daten von fremden Quellen zu übermitteln, ohne befürchten zu müssen, dabei entdeckt zu werden. Andere militärische Anwendungsgebiete sahen vor, die Nano-Bots als Gifte oder Kraftfelder einzusetzen. Eine weitere Überlegung des Kreml war es, diese Nanowaffen zur Gedankenlöschung einzusetzen. Dabei sollten sich die Nano-Bots als Mikrofelder an das Hirn der Opfer heften und dann kleine Energiewellen abgeben, welche bestimmte Erinnerungen löschen und diese mit neuen Befehlen, neuen Erinnerungen oder neuen Überzeugungen gemäß der kommunistischen Lehren überschreiben würden.
Und auch andere Anwendungen wie Nano-Nadeln und Wassergeschosse wurden erwogen, wegen ihres Potenzials, aus der Entfernung töten zu können. Und, was noch viel wichtiger war, dafür sogar programmiert werden konnten.
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