»Für mich, Bonasero, ist es ziemlich offensichtlich, dass die Brüstung doch nicht hoch genug gewesen ist.«
Vessucci trat näher heran. Die Brüstung reichte ihm weit über den Bauch.
Aber Angullo verstand die Anspielung. »Papst Gregor war größer als Sie«, erklärte er.
»Das stimmt. Aber nicht groß genug, um beim Darüberlehnen das Gleichgewicht zu verlieren.« Er wandte sich Angullo zu. »Es sei denn, man hat ihn gestoßen.«
Der Kardinal neigte den Kopf auf eine Weise zur Seite, die an einen verdutzten Hund erinnerte. »Wenn ich es nicht besser wüsste, Bonasero, würde ich annehmen, Sie hätten soeben angedeutet, der Pontifex sei ermordet worden. Und dass Sie, zumindest was Ihren Tonfall anbelangt, der Ansicht sind, ich hätte etwas damit zu tun.«
Vessucci trat von der Brüstung zurück. »Jede noch so glatte Oberfläche hat einen Makel, Giuseppe. Alles, was ich sage, ist, dass der Fall viel zu schnell zu den Akten gelegt wurde, um eine vollständige Untersuchung durchführen zu können … wohl in dem Glauben, dass es im Vatikan niemals zu irgendwelchen wirklich verwerflichen Taten kommen könnte.«
»Also wirklich, Bonasero. Glauben Sie ernsthaft, dass Papst Gregor durch fremde Hand den Tod fand, statt durch die Hand des Schicksals? Er ist gestürzt. Unfälle wie dieser passieren.«
»Es ist ziemlich unwahrscheinlich, einfach so über diese Brüstung zu stürzen, denn um genau das zu verhindern, wurde sie auf exakt diese Weise konstruiert.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Giuseppe. Entweder nahm er sich selbst das Leben, oder …« Er unterbrach sich kurz, aber nur einen Augenblick später fügte er hinzu: »Oder jemand half bei seinem Sturz nach.«
Angullo schien das nicht zu beeindrucken. »Was Sie da sagen, Bonasero, dieses Gerede von Mord und Selbstmord, ist absoluter Nonsens. Gregor war in der Nacht seines Todes bei klarem Verstand. Er hätte sich niemals das Leben genommen und die Kirche damit in eine derart heikle Position gebracht.«
»Exakt. Und damit bleibt nur noch die zweite Möglichkeit.«
Kardinal Angullos Nasenflügel bebten und er zog verärgert die Augenbrauen über seiner Nasenwurzel zusammen. »Eigentlich haben die Jahre der Vernunft die Ketzerei verschwinden lassen, Bonasero. Aber wenn irgendetwas wieder Anlass zur Sorge für derartige Entheiligungen geben sollte, sind es Bemerkungen wie Ihre.«
»Ist Ihr Erinnerungsvermögen wirklich so schlecht, Giuseppe? Haben Sie bereits den Anschlag auf Johannes Paul II. vergessen? Was ich äußere, liegt durchaus im Bereich des Möglichen. Und deshalb werde ich nicht die Augen vor dem verschließen, was sich vielleicht wirklich zugetragen hat.«
Kardinal Angullo wendete seinen Blick von Vessucci ab und ließ ihn über den Ausblick über die Vatikanstadt schweifen. »Und was gedenken Sie zu tun?«, fragte er. »Eine Untersuchung einleiten, obwohl uns weniger als zehn Tage bleiben, bevor das Konklave einen Nachfolger wählt?«
»Schwerlich. Ich äußerte lediglich meine Meinung.«
»Aber Sie glauben fest, dass der Pontifex ermordet wurde?«
Bonasero schwieg.
»Machen Sie sich bewusst, dass Sie sofort wieder zusammen mit Ihren närrischen Fantastereien nach Boston zurückkehren werden, sobald der neugewählte Papst den Thron bestiegen hat«, erklärte Kardinal Angullo.
»Es sei denn«, entgegnete Vessucci und sah seinem Gegenüber fest in die Augen, »man wählt mich für das Amt des Pontifex, Giuseppe.«
»Selbst wenn«, erwiderte Angullo ungerührt. »Was dann? Werden Sie persönlich die Suche nach etwas leiten, das nicht existiert? Sie werden als Hund enden, der seinem eigenen Schwanz hinterherjagt, Bonasero. Sie werden hier nichts finden. Und wenn Sie gewählt werden, glauben Sie nicht, dass Sie dann besser beraten wären, sich um die Belange der Kirche als Ihre eigenen zu kümmern?«
»Die Suche nach der Wahrheit, Giuseppe, war schon immer die Aufgabe der Kirche.«
Kardinal Angullo schüttelte den Kopf. Ob aus Abscheu oder Uneinigkeit konnte Vessucci nicht sagen. Der Mann sah noch eine Weile über die Brüstung, dann wandte er sich wieder Vessucci zu. »Tun Sie, was Sie tun müssen«, erklärte er. »Jagen Sie Ihren albernen Ideen nach, während ich mich darum kümmere, meine Position unter den Wahlmännern zu stärken. Wenn ich den Thron zugesprochen bekomme, Bonasero, sollte Ihnen klar sein, dass Sie von da an die Wahrheit wieder von Boston aus suchen können. Und glauben Sie mir, Ideen wie die Ihren werden auf taube Ohren stoßen.«
Vessucci lächelte. »Gott bleibt niemals taub oder stumm, wenn es um die Wahrheit geht, Giuseppe. Und die Wahrheit kommt immer ans Licht, ob ich nun im Vatikan weile oder jenseits des Ozeans.«
Angullo umrundete Vessucci und der Kardinal trat unwillkürlich einen Schritt von dem Geländer zurück.
»Wahrscheinlich halten Sie mich für den Mörder, nicht wahr? Versuchen Sie so, an die Stimmen der Wahlmänner zu gelangen, indem Sie närrische und unbegründete Theorien verbreiten? Dass der angesehene Kardinal Giuseppe Angullo den Papst umbrachte? Ist das Ihre Strategie, Bonasero?« Der Kardinal stand nun direkt hinter Vessucci, der den Mann nicht einmal mehr aus den Augenwinkeln sehen konnte.
Vessucci drehte den Kopf weit genug, um ihn von der Seite anzusehen. »Ich werbe mit den Stärken, die ich als Neugewählter einbringen könnte, mehr nicht«, sagte er.
»Ich verstehe.« Angullo trat an die Brüstung zurück, dann sagte er: »Wie ich hörte, ist Ihr Lager stark geblieben, selbst nachdem Gregor Sie nach Amerika entsandte.«
»Und Ihres ist etwas weniger mächtig.«
Angullo lächelte und nickte. »Es wird interessant werden, wenn sich das Konklave zusammenfindet. Aber verraten Sie mir eines, Bonasero: Werden Sie diese Ritter zurückbeordern, wenn Sie auf den päpstlichen Thron gewählt werden?«
»Glauben Sie mir, Giuseppe, davon werden Sie keine Kenntnis erlangen, egal, welches Amt Sie in der Kirche begleiten werden.«
»Als Präsident des Vatikans werden Sie gar keine andere Möglichkeit haben, als mich einzuweihen.«
»Oh, und ob«, widersprach Vessucci entschieden. »Auf die gleiche Weise, wie Papst Gregor dafür sorgte, mein früheres Amt Ihnen zu übertragen, würde ich die gleiche Autorität besitzen, es ihm gleichzutun. Vielleicht gefällt es Ihnen ja in Boston, Giuseppe.«
Angullo nickte. »Sie vergessen eine Sache, Bonasero. Sie scheinen mir unbegründet zuversichtlich zu sein, wo doch jeder innerhalb der Kirche weiß, dass Ihre Delegation nach Boston in der Hauptsache eine Strafversetzung war. Ihre Anhänger werden dieser unrühmlichen Anekdote wegen schwinden und Ihre Bewerbung um das Amt des Papstes wird schneller beendet sein, als sie überhaupt begonnen hat.«
»Ist das der Weg, mit dem Sie die Wahlmänner überzeugen wollen?«
Angullos rechter Mundwinkel wanderte ein wenig nach oben. »Sollte ich lügen, was den wahren Grund Ihrer Versetzung nach Amerika anbelangt? Dass man Sie wegen dieser Ritter des Vatikan und dem Rat der Sieben einhellig Ihres Amtes enthob, diesen Geheimbünden innerhalb der Kirche, von denen niemand etwas wusste?«
Damit hatte er seine Trumpfkarte ausgespielt und Vessucci stieg nur allzu gern darauf ein.
»Ich verstehe«, sagte er. »Aber auch Sie vergessen eine Sache.«
»Und die wäre?«
»Jene Ritter des Vatikan standen hoch in der Gunst eines jeden Papstes, bis zurück zu den Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Und niemand griff öfter auf ihre Dienste zurück als Papst Pius und Johannes Paul II.« Er stand nun direkt vor Angullo, mit dem Rücken zur Brüstung, und sah ihn direkt an. »Sollten Sie auf diese Taktik setzen, dann besudeln Sie damit den guten Namen von Johannes Paul, einem Mann, der sogar heiliggesprochen wurde.«
Angullo schüttelte missbilligend den Kopf. »Hören Sie sich eigentlich reden, Bonasero? Sie gebärden sich wie ein Pharisäer.«
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