Der Araber trat näher an das Artefakt heran. Die Bundeslade war vom Staub der Jahrhunderte bedeckt, aber ansonsten unangetastet. Er ließ das Licht seiner Taschenlampe über die Lade und ihren Sockel gleiten und bemerkte die Überreste der Skelette der Hüter der Lade. Seit über dreitausend Jahren hatte sich der Stoff ihrer Roben nun schon zersetzt, sodass nur noch wenige Gewebefetzen übrig geblieben waren, welche die Knochen bedeckten. Und seit dreitausend Jahren war ihr Geheimnis in Sicherheit geblieben.
Bis heute , dachte er bei sich.
Er streckte seine Hand nach der Lade aus, ließ seine Finger zärtlich über die Flügel der Cherubim-Figuren gleiten und lächelte. Die Bundeslade zu berühren bedeutete den sicheren Tod, so verkündete es jedes existierende Dokument. Und doch stand er hier, strich mit der Hand über die Lade und spürte weder Hitze noch Kälte oder elektrische Spannung. Die Lade bestand einfach nur aus purem Gold und der Mythos war nichts weiter als eine Legende, um die Massen willfährig und ihren blinden Glauben intakt zu halten.
Ein solcher Schatz aber würde mehr als Glaube und Hoffnung beinhalten.
Bald schon würden es Tod und Dunkelheit sein.
»Entfernt die Abdeckung«, befahl er.
Vier Männer, die aussahen, als hätten sie seit Tagen ohne eine Dusche geschuftet, schoben vorsichtig den Deckel zur Seite, hoben ihn an und legten ihn danach behutsam zwischen den Skeletten der Hüter ab.
In der Bundeslade befanden sich weitere Schätze.
Seit über drei Jahrtausenden unberührt lagen vier Gegenstände in dem Artefakt: Ein goldener Kelch, gefüllt mit dem Staub von etwas, das über die Zeit vergangen war; der Stab Aarons, dem Bruder Moses; und zwei steinerne Tafeln mit hebräischen Inschriften. Die Zehn Gebote.
Ghazi schien von seiner Entdeckung beeindruckt zu sein.
Mit größter Sorgfalt hob er eine der Tafeln an. Die Inschrift war noch überaus gut erhalten, und mit seinen Fingern fuhr er die Schriftzeichen ab.
»Geschrieben von den Fingern Gottes«, bemerkte er zu niemand bestimmten. Dann legte er die Tafel zurück in die Lade, mit der gleichen Vorsicht, mit der man ein Baby in seine Krippe legen würde. »Wir nehmen die Tafeln mit uns«, ergänzte er. »Den Stab und den goldenen Kelch aber lassen wir hier, als Beweis für die Israelis, dass die Bundeslade entdeckt wurde, und wir in ihrem Besitz sind. Aber seid vorsichtig, wenn ihr sie fortbringt!«
Die Bergarbeiter senkten demütig ihre Häupter, entfernten die originalen Tragestangen, die über die Zeit brüchig geworden waren und bei der kleinsten Berührung zerfielen, und ersetzten sie durch metallene Streben.
Binnen einer Stunde war die Bundeslade, bis auf den Stab des Aaron und den goldenen Kelch, aus der Kammer geschafft und auf die Ladefläche eines Lastwagens verladen worden, der etwa eine Meile vor dem Tempelberg wartete.
Während der LKW mit der sorgfältig in Stoffbahnen eingeschlagenen Lade davonfuhr, nahm Ghazi sein Satellitentelefon zur Hand und wählte aus dem Gedächtnis eine Nummer. Nach dem dritten Klingeln meldete sich ein Mann namens Zawahiri, der Ghazi fragte, ob Allah an diesem Tag auf ihn hinab gelächelt hätte.
»Bei Allahs Gnade, wir haben die Bundeslade gefunden, Zawahiri«, sagte er.
»Aber ist es auch die echte Lade?«
»Ohne Frage«, erwiderte er. »Sie war die ganze Zeit über direkt vor der Nase der Israelis, in einer nirgends verzeichneten Kammer. Doch es war Allahs Wille, dass sie in unsere Hände fallen sollte.«
»Gute Arbeit, Ghazi. Die Vorsitzenden werden zufrieden sein, dass sich Ihre Bemühungen nun endlich auszahlten und unsere Geduld bald schon belohnt werden wird.«
»Nur damit Sie Bescheid wissen, mein Freund, wir befinden uns bereits auf der Rückfahrt mit der Fracht zu unserer Basis.«
Zawahiri klang zufrieden. »Dann werde ich unsere restlichen Partner über Ihren Erfolg benachrichtigen«, sagte er. »Fahren Sie mit dem nächsten Stadium fort.«
Ghazi atmete tief die heiße Wüstenluft ein, als hätte sie eine berauschende Wirkung auf ihn, und stieß sie danach in einem langen Seufzen wieder aus. Mit geschlossenen Augen bat er für Zawahiri um die Segnungen Allahs und beendete das Gespräch.
Jerusalem, unter dem Tempelberg
Yitzhak Paled war der Leiter des Lohamah Psichlogit, jener Einheit des Mossad, die für psychologische Kriegsführung, Propaganda und verdeckte Operationen zuständig war. Für einen dünnen, schmächtig gebauten Mann war er doch drahtig und kräftig, aber er verströmte stets eine Aura, die einem riet, sich besser nicht mit ihm anzulegen.
Er stand in der zweiten Kammer unter dem Tempelberg, wo mittlerweile mehrere Lampen auf Stativen aufgestellt worden waren, die den Raum mit Scheinwerferlicht erhellten. Um die zentrale Plattform herum, auf der sich der Stab Aarons und der goldene Kelch befanden, waren die neun Hüter der Bundeslade verteilt, deren Knochen die kaffeeartige Färbung gealterten Kalziums aufzeigten.
Paled, der nahe der Plattform stand und den anderen Anwesenden um sich herum bei der Arbeit zusah, hatte sein Kinn in seine Hand gestützt. Für ihn bestand keinerlei Zweifel, dass es sich bei der fraglichen Bundeslade um die wahre Lade handelte, schon allein deswegen, weil weder er noch die israelische Regierung Kenntnis von dieser Kammer besaßen und sie in keiner der bekannten Quellen Erwähnung fand.
Die ganze Zeit über hatte die Bundeslade, bewacht von ihren Hütern, direkt unter ihren Füßen gelegen, während sich alle zuvor entdeckten Laden in Nordafrika als Plagiate oder Nachbildungen herausgestellt hatten.
Wie die Araber sie finden konnten, war ihm ein Rätsel. Noch viel wütender aber machte Paled, dass dem Mossad eine direkte Nachricht der Araber zugestellt worden war, in der es hieß, dass sie nun im Besitz der Lade wären, und das sich der Beweis dafür direkt zu Füßen der Israelis befinden würde. Er verstand dies als Schlag ins Gesicht, als eine Geste dafür, dass ihnen die arabische Welt nun einen Schritt voraus war.
Wieso aber würden sie soweit gehen und sich der Bundeslade auf die Art bemächtigen, wie sie es getan hatten? Und wie konnten sie überhaupt von ihrem Versteck wissen?
Paled zweifelte keine Sekunde daran, dass die Radiokarbonuntersuchungen an dem Stab und den Knochen bestätigen würden, dass diese über dreitausend Jahre alt sein würden, wenn nicht sogar deutlich älter.
So sehr er auch darüber nachgrübelte, kam Paled einfach nicht dahinter, was die Araber im Schilde führten. Ganz offensichtlich hatten sie die Lade zu einem bestimmten Zweck entwendet. Der Grund dafür aber blieb ihm schleierhaft.
Könnte es ihnen um Geld gehen? , überlegte er. Vielleicht Lösegeldforderungen für die Bundeslade, um damit ihre terroristischen Aktivitäten finanzieren zu können? Al-Qaida war bekannt dafür, historische Antiquitäten auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen, um Geld für ihr Regime zu sammeln.
Das war die erste logische Idee, die ihm in den Sinn kam.
Aber es gab natürlich auch andere Möglichkeiten. Sie konnten die Lade auch dazu benutzen, jede Situation zu einem zentralen Streitthema zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften eskalieren zu lassen, welche dieses Artefakt für sich beanspruchten, und das konnte schnell zu erhitzten Gemütern führen, wenn man ihnen diesen Schatz verwehrte.
Die Juden, die Katholiken, die Muslime – jeder von ihnen hätte rechtmäßigen Anspruch auf die Bundeslade.
Paled rieb sich nachdenklich weiter über sein Kinn, während seine Mitarbeiter behutsam die Gebeine der Hüter einsammelten. Doch egal, wie vorsichtig sie auch zu Werke gingen, brachen die spröden Knochen immer wieder entzwei. Dann nahmen sie den Stab des Aaron an sich, platzierten ihn in einem Metallkoffer, der eigentlich für ein Gewehr gedacht war, und verschlossen ihn. Dies war fraglos ein umwerfend bedeutsamer Schatz. Aber der eigentliche Fund war natürlich die Bundeslade und die beiden Steintafeln darin. Wieso also ließen sie den Stab zurück?
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