»Wir sind hier so gut wie fertig«, sagte Jacob, einer der Mitarbeiter des Lohamah Psichlogit.
Paled versuchte noch einmal, einen logischen Grund für den Diebstahl zu finden, bevor er sich mit einem fragenden Gesichtsausdruck zu Jacob umdrehte. »Verraten Sie mir eines«, sagte er. »Wieso sollte jemand die Bundeslade entwenden, den Stab aber zurücklassen?«
Jacob zuckte mit den Schultern. »Um Lösegeld zu fordern?«
Paled schüttelte den Kopf. »Dann hätten sie den Stab ebenfalls mitgenommen und ihn für gutes Geld auf dem Schwarzmarkt verhökert, um damit ihre Sache zu finanzieren. Nein, ich glaube, das geht viel weiter. Ich glaube, sie haben etwas mit ihr vor.«
Jacob trat ein paar Schritte vor und dabei fielen ihm die Abdrücke der Füße der Lade auf, um die herum sich der Staub von dreitausend Jahren gesammelt hatte. »Haben Sie erste Vermutungen?«
Von denen hatte Paled einige, wenn auch nur schwach. »Als Mitglied des Lohamah Psichlogit, der die Dinge aus der Sicht der psychologischen Kriegsführung, der Propaganda und der Täuschung heraus sieht, glaube ich, dass sie die Lade als eine Art Waffe benutzen werden, ob nun psychologisch oder auf andere Weise.« Er trat auf die Plattform zu. »Sagen Sie mir, Jacob … was sehen Sie hier?«
Jacob zögerte, dachte nach. »Ich sehe die Araber, die unser eigenes Spiel gegen uns verwenden«, sagte er.
Paled nickte. »Und wenn sie dieses Spiel gut genug spielen …«, begann er, brachte den Satz aber nur in Gedanken zu Ende.
… dann könnten sie damit einen Krieg anzetteln, wie es ihn noch nie gegeben hat …
… und uns alle dabei vernichten.
Vatikanstadt, sehr früher Morgen
Aus den Augenwinkeln glaubte Papst Gregor XVII. einen flüchtigen Schatten durch die päpstlichen Gemächer huschen zu sehen.
Der Raum war dunkel, die hinteren Ecken und Winkel noch finsterer, und durch die offenen Türen, die zu dem Balkon hinausführten, fiel nur das dürftige Licht des Mondes herein. Eine schwache Brise aus Westen wiegte die Vorhänge sanft hin und her, eine anmutige Bewegung, so langsam und in sich ausgewogen, dass es den gesamten Moment wie einen Ausschnitt aus einem surrealen Traum wirken ließ. Und obwohl er die Brise spüren konnte, die in den Raum wehte, fühlte sein Geist sich weiter fiebrig und heiß an, und vielleicht war auch das der Grund, der ihn zu der Illusion führte, dass noch jemand anderes im Zimmer sei.
Trotzdem vergewisserte sich der Pontifex mit schwacher Stimme: »Ist da jemand?«
Stille.
Papst Gregor schlug seine Decke zurück, setzte sich auf und schwang seine Beine über den Rand des Bettes, bis seine nackten Fußsohlen den Marmorboden berührten.
Nach dem Tod Papst Pius XIII. war Gregor zu dessen Nachfolger ernannt worden und verrichtete bereits seit den letzten sechs Monaten sein Amt auf dem päpstlichen Thron. Unter seiner Führung regierte der Konservatismus, was ihn ein wenig von Pius liberalerem Standpunkt unterschied, nach dem sich die Kirche dem Willen der Massen durch Veränderungen und Reformen beugen müsse, weil auch die Welt sich jeden Tag veränderte. Gregor aber war der Überzeugung, dass sich die Menschen dem Willen Gottes beugen sollten, und nicht umgekehrt. Also begann das Pendel langsam wieder zu einer konservativeren Grundhaltung zurückzuschwingen, was natürlich erneut den Zorn einiger katholischer Bürger erregte.
Und obwohl er sich auch einiger Kritik aus den eigenen Reihen gegenübersah, galt er in seinem Kolleg als jemand, der auch bei Gegenwind nicht von seinem Standpunkt abwich, egal wie laut die gegnerischen Stimmen schreien würden.
Als Papst Gregor stand, fing die Welt um ihn herum an, sich zu drehen. Die Schatten schienen länger und lebendig zu werden, und diese Umrisse griffen nach ihm, versuchten ihn zurückzuziehen. Wahnvorstellungen eines verwirrten Geistes. Er taumelte, hielt inne, um sich festzuhalten, und schritt dann auf die Veranda zu, wo er von einem Windstoß empfangen wurde, der seine Haare wie die Mähne eines Pferdes nach hinten wehen ließ.
Vor ein paar Stunden noch war er so robust wie Atlas gewesen, hatte die gesamte religiöse Welt auf seinen breiten Schultern getragen. Doch jetzt fühlte er sich erstaunlich schwach und kaum dazu in der Lage, auch nur seine Hand zu heben.
Auch sein Magen brannte bei jedem langsamen Schritt, als würde er Magma verdauen. Und dann wurde sein gesamter Körper zu einem Haus des Schmerzes und wie ein Betrunkener taumelte er auf eine der Säulen neben der Verandatür zu und blickte hinaus in die Nacht.
Unter dem Licht des Dreiviertelmondes, wo der Obelisk und die Kolonnaden nichts weiter als kalte, blaue Schatten bewachten, die sich über den gepflasterten Petersplatz erstreckten, sah Papst Gregor andächtig auf die Schönheit jenes Landes hinaus, welches er regieren durfte.
Er blieb einige Zeit an der Verandatür stehen, aber der Schmerz intensivierte sich, als er taumelnd auf deren Brüstung zulaufen wollte, mit einer Hand auf seinen Bauch gepresst und die andere nach dem Geländer ausgestreckt.
Gregor bewunderte weiter das Land, das ihm mit seiner Papstschaft überantwortet worden war, während sein Atem nur noch in kurzen Stößen ging und seine Lungen Mühe hatten, genug Sauerstoff aufzunehmen, um ihn bei Bewusstsein zu halten. Sechs Monate arbeitete er nun als direkter Diener Gottes. Und in diesen sechs Monaten war er davon überzeugt gewesen, dass seine Hingabe ihn mit einer außergewöhnlich langen Regentschaft als Papst belohnen würde. Sechs Monate waren noch nicht einmal ein Blinzeln aus der Sicht des Universums, befand er. Nicht einmal annähernd.
»Ich weiß, dass Sie hier sind«, sagte er und das Atmen bereitete ihm nun noch größere Schwierigkeiten.
Aber er bekam keine Antwort und auch in den Schatten rührte sich nichts. Kein einziges Geräusch war zu hören, nicht einmal der Hinweis auf Schritte.
»Glauben Sie wirklich, dass Gott Ihre Taten ungesühnt lassen wird?«
Das schwache Rauschen einer frischen Brise fuhr an ihm vorüber, eine süße, beruhigende Melodie. Er schloss die Augen und wartete.
»Gott wird Sie dafür nicht belohnen«, rief er aus. »Egal, welches Amt Sie in der Kirche begleiten, der einzige Lohn, den er für Sie bereithalten wird, ist das Feuer der Verdammnis.«
Der Pontifex stützte sich mit einer Hand auf dem Geländer der Veranda ab, dann begann er zu wanken, vor und zurück, und drohte, auf den Platz unter ihm zu stürzen.
»Das Feuer der Verdammnis«, flüsterte er. Dann riss er die Augen auf, als er eine Hand an seinem Rücken und direkt danach den Stoß spürte, gerade kräftig genug, um ihn über die Brüstung zu stoßen. Der alte Mann begann wild mit den Armen zu rudern, während er sich zu seinem Vollstrecker umdrehte. Seine Füße verloren den Halt, er rutschte über die Brüstung, und während das Pflaster mit unvorstellbarer Geschwindigkeit auf ihn zuraste, verschwand die Veranda über ihm in immer weiterer Ferne. Der Mond kreiste um ihn herum und schien traurig auf das Ende des alten Mannes hinunterzublicken.
Dann schlug er auf den Steinen auf, hart und mit dem Geräusch einer Melone, die auf dem Boden zerplatzte.
Doch der Pontifex war noch nicht tot und nahm den Geruch von Kupfer wahr, der durchdringend in der Luft hing, während sich unter ihm Blut in alle Richtungen ausbreitete.
Er hustete Blut aus seinen aufgerissenen Lungen und starrte hinauf, um einen Blick auf seinen Gott zu erhaschen, doch stattdessen sah er einen Schatten von seiner Veranda auf sich herabschauen. Er war reglos wie eine griechische Statue und schien ein Ornat zu tragen. Dann zog sich der Umriss von der Brüstung zurück und verschwand so lautlos, wie er gekommen war.
Langsam wich das Leben aus dem Körper des Pontifex. Die Ränder seines Sehfeldes begannen erst schwarz, dann violett zu werden, und danach flackerten die Lichtblitze auf, die ihn zu der göttlichen Erleuchtung führen würden.
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