3.Nicht ausdrücklich normierte Verfassungsgrundsätze
32Neben den geschriebenen gibt es aber auch noch weitere ungeschriebene Verfassungsgrundsätze, die sich entweder aus dem Menschenbild des Grundgesetzes (Art. 1 Abs. 1 GG) oder aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ableiten. Einer dieser Grundsätze ist das Schuldprinzip(„nulla poena sine culpa“) 14welches besagt, dass die Schuld des Täters eine zwingende Voraussetzung für die Legitimität staatlicher Strafe ist. Im Gegensatz zum Zivilrecht, welches auch eine reine Gefährdungshaftung kennt, muss der Betroffene im Strafrecht stets für seine Tat verantwortlich sein, insbesondere vorsätzlich oder fahrlässig handeln. Ein weiterer ungeschriebener Verfassungsgrundsatz ist auch der Grundsatz „in dubio pro reo“ :Kommt der Richter nach Erhebung und Würdigung aller zur Verfügung stehenden Beweismittel nicht zu einer eindeutigen Einschätzung, wie sich der Sachverhalt zugetragen hat, so hat er „im Zweifel“ den für den Täter jeweils günstigeren Sachverhalt zugrunde zu legen, d. h. denjenigen Sachverhalt, der für den Täter die günstigeren Rechtsfolgen (Freispruch, mildere Bestrafung) nach sich zieht. Bereits an dieser Stelle soll betont werden, dass dieser Zweifelsgrundsatz stets nur bei Zweifeln hinsichtlich festgestellter Tatsachen eingreift – und niemals die Auslegung der Rechtsvorschriften beeinflusst. Ist statt einer Tatsachen- eine unklare Rechtsfrage betroffen, darf der Richter nicht schlicht „in dubio pro reo“ entscheiden, sondern muss zur Rechtsfrage Stellung beziehen.
Literaturhinweise
Bott/Krell , Der Grundsatz „nulla poena sine lege“ im Lichte verfassungsrechtlicher Entscheidungen, ZJS 2010, 694 (verständliche Übersicht mit aktuellen Beispielen aus der Rechtsprechung); Hettinger , Die zentrale Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 103 II GG), JuS 1986, L 17 (kurze, studierendengerechte Einführung)
RGSt 32, 165– Elektrizität (verbotene Analogie, wenn Elektrizität als Sache angesehen würde); RGSt 71, 323– Leichenbeschimpfung (zur analogen Anwendung von Strafvorschriften in der NS-Zeit); BVerfGE 25, 269 –Verjährungsunterbrechung (zur Reichweite des Rückwirkungsverbots); BVerfG NJW 2008, 3627– Polizeikontrolle (zur Abgrenzung von Analogie und Auslegung: PKW ist keine Waffe im Sinne des § 113 StGB)
V.Abgrenzung zu anderen Rechtsgebieten
33Regelungsgegenstand des Strafrechts ist das materielle Recht. Davon zu unterscheiden ist das Strafprozessrecht, welches zum formellen Rechtzählt. Ferner ist das Strafrecht noch abzugrenzen vom Disziplinarrechtund vom Ordnungswidrigkeitenrecht, bei denen auf bestimmtes Fehlverhalten von Personen ebenfalls mit staatlichen Sanktionen reagiert wird.
34Unter dem Begriff des materiellen Rechtsversteht man die Rechtslage an sich, d. h. die Beurteilung von Recht und Unrecht. Im Strafrecht betrifft dies vor allem die im Strafgesetzbuch (StGB) geregelten Vorschriften sowohl des Allgemeinen als auch des Besonderen Teils. Hier wird einerseits geregelt, wann sich wer und wodurch strafbar machen kann, andererseits ergibt sich hieraus, welche Rechtsfolgen sich an die jeweilige Tat knüpfen (Geldstrafe, Freiheitsstrafe, Maßregeln der Besserung und Sicherung). Dagegen zählen zum formellen Rechtsämtliche Vorschriften, welche die Rechtsdurchsetzung betreffen. Hier wird geregelt, auf welche Weise der staatliche Strafanspruch geltend gemacht werden kann. Dabei stellt die Strafprozessordnung (StPO) ein bestimmtes förmliches Verfahren (das „Strafverfahren“) zur Verfügung, durch welches festgestellt werden kann, wie sich die materielle Rechtslage darstellt. Darüber hinaus wird durch die Strafvollzugsgesetze (StVollzG) des Bundes und der Länder geregelt, wie das auf diese Weise festgestellte Recht durchgesetzt, der staatliche Strafanspruch also verwirklicht werden kann.
35Jede begangene Straftat führt nach ihrer Entdeckung zu einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, in welchem die Staatsanwaltschaft prüft, ob Anlass zur Erhebung einer öffentlichen Klage besteht (vgl. § 170 Abs. 1 StPO). Ist dies der Fall, wird anschließend – nach Zulassung der Klage durch das Gericht – in der gerichtlichen Hauptverhandlung festgestellt, ob sich ein Täter tatsächlich strafbar gemacht hat und welche Strafe dafür auszusprechen ist. Dabei ermittelt die Staatsanwaltschaft den Sachverhalt unter Mitwirkung der Polizei (vgl. § 161 Abs. 1 StPO) und erhebt gegebenenfalls Anklage. Der Richter hingegen entscheidet auf der Basis der staatsanwaltschaftlichen Anklage auf der Grundlage der mündlichen Hauptverhandlung. Dem Richter stehen in vielen Fällen sog. „Laienrichter“ (Schöffen) zur Seite. Im Gegensatz zum US-amerikanischen Recht kennt das deutsche Recht dabei keine „Geschworenen“.
36Die Vorschriften des materiellen Strafrechtssind im Wesentlichen im StGB geregelt, welches aber an manchen Stellen darüber hinaus auch Regelungen über die Rechtsdurchsetzung enthält (Regelungen über die Stellung eines Strafantrags, §§ 77 ff. StGB, Regelungen über die Verjährung einer Straftat, §§ 78 ff. StGB). Darüber hinaus findet sich eine Vielzahl einzelner Strafbestimmungen im sog. „Nebenstrafrecht “. Hierunter versteht man eigenständige Straftatbestände, die in zumeist verwaltungsrechtlichen, zuweilen aber auch zivilrechtlichen Einzelgesetzen aufgenommen wurden. Für das gesamte Nebenstrafrecht gelten dabei die Vorschriften des Allgemeinen Teils des StGB (vgl. § 1 EGStGB). In der Praxis besonders bedeutsam sind die Straftatbestände des Waffengesetzes (§§ 51 f. WaffG) und des Betäubungsmittelgesetzes (§§ 29 ff. BtMG). Das formelle Strafrechtist zwar weitgehend in der StPO geregelt, darüber hinaus finden sich aber auch Regelungen in anderen Gesetzen. So finden sich z. B. im Gerichtsverfassungsgesetz(GVG) Regelungen über die Fragen der sachlichen Zuständigkeit der Gerichte (d. h. die Frage, welches Gericht für welche Straftaten zuständig ist).
37Während das Strafrechtdem Staat die Möglichkeit gibt, jedermann wegen der Begehung eines allgemeinen Delikts zu bestrafen, eröffnet das Disziplinarrechteinem Vorgesetzten das Recht, einen Untergebenen innerhalb eines bestimmten Sonderrechtsverhältnisses(z. B. dem Beamten-, Soldaten- oder Wehrdienstverhältnis) zu disziplinieren. Dieses Recht steht teilweise auch Berufsverbänden zu (z. B. Rechtsanwalts- oder Ärztekammer). Als Sanktionen sind hier Verweise, förmliche Verwarnungen, die Entlassung aus dem Dienstverhältnis, der Ausschluss aus dem jeweiligen Berufsverband, aber auch Geldbußen oder sogar (im Wehrrecht) kurze Arreststrafen (§ 9 WStG) möglich. Diese Sanktionen können neben diejenige Strafe treten, die durch ein Strafgericht verhängt wird. Da es sich bei den Sanktionen des Disziplinarrechts nicht um klassische „Strafen“ handelt, soll nach h. M. das Verbot der Doppelbestrafung 15hier nicht gelten.
38Während der Gesetzgeber besonders schwere Verfehlungen gegen die gesellschaftliche Ordnung im Wege des Strafrechtsmit der Verhängung einer Strafesanktioniert, sieht er für weniger gravierende Verstöße von Strafe ab und ahndet diese lediglich als bloße Ordnungswidrigkeit(z. B. Falschparken, zu schnelles Fahren). Es handelt sich hierbei um bloßes „Verwaltungsunrecht“, welches mit der Verhängung einer Geldbußegeahndet wird. Geld strafen(und erst recht Freiheitsstrafen) dürfen dann nicht verhängt werden. Eine Ahndung erfolgt ausschließlich durch die Verwaltungsbehörden (§§ 35 ff. OWiG), die Entscheidung ist jedoch gerichtlich überprüfbar. Eine solche Überprüfung erfolgt dann jedoch nicht durch die Verwaltungsgerichte, sondern durch den Strafrichter am Amtsgericht (§§ 67 ff., 71 ff. OWiG).
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