»Nein, nein«, sagte Enno Kluge. »Zu denen gehe ich nicht. Gib mir mal die Pistole in die Hand – ist es so richtig, wie ich sie halte?«
»Ja …«
»Und wo soll ich sie ansetzen? Da an die Schläfe?«
»Ja …«
»Und nun den Finger hier an den Hahn legen. Ich will’s vorsichtig tun, jetzt will ich noch nicht … Ich möchte noch ein bisschen mit dir reden …«
»Du brauchst keine Angst zu haben, die Pistole ist noch gesichert …«
»Weißt du auch, Escherich, dass du der letzte Mensch bist, mit dem ich spreche? Danach wird’s nur noch Ruhe geben, nie wieder werde ich mit einem Menschen sprechen können.«
Er schauderte zusammen.
»Als ich eben die Pistole an die Schläfe gesetzt habe, ging so eine Kälte von ihr aus. So eisig müssen die Ruhe und die Freiheit sein, die mich nachher erwarten.«
Er beugte sich nahe zum Kommissar und flüsterte: »Willst du mir eins fest versprechen, Escherich?«
»Ja. Was ist denn?«
»Aber du musst dein Versprechen auch halten!«
»Das tu ich schon, wenn ich’s kann.«
»Lass mich nicht ins Wasser rutschen, wenn ich tot bin, versprich mir das. Vor dem Wasser habe ich Angst. Lass mich hier oben liegen, auf dem trockenen Steg.«
»Natürlich. Das verspreche ich dir!«
»Schön, gib mir die Hand darauf, Escherich.«
»Hier!«
»Und du wirst mich nicht betrügen, Escherich? Siehst du, ich bin nur ein kleines, elendes Aas, es macht nicht viel aus, ob man mich betrügt oder nicht. Aber du wirst es nicht tun?«
»Ich werde es bestimmt nicht tun, Kluge!«
»Gib mir noch mal die Pistole, Escherich – ist sie jetzt entsichert?«
»Nein, noch nicht, erst wenn du’s sagst.«
»Habe ich sie so richtig angesetzt, ja? Jetzt fühle ich die Kälte vom Lauf kaum noch, ich bin ebenso kalt wie der Lauf. Weißt du, dass ich eine Frau und Kinder habe?«
»Ich habe sogar mit deiner Frau gesprochen, Kluge.«
»Oh!« Der Kleine war so interessiert, dass er die Pistole rasch wieder absetzte. »Ist sie hier in Berlin? Ich würde sie gern noch einmal sprechen.«
»Nein, sie ist nicht in Berlin«, antwortete der Kommissar und verfluchte sich, weil er seinem Grundsatz, nie eine Mitteilung zu geben, untreu geworden war. Gleich hatte man die Folgen! »Sie ist immer noch im Ruppinschen bei ihren Verwandten. Und es ist schon besser, du sprichst nicht mit ihr, Kluge.«
»Sie ist nicht gut auf mich zu sprechen?«
»Nein, gar nicht, sie ist nur böse auf dich zu sprechen.«
»Schade«, sagte der Kleine. »Schade. Eigentlich ist es komisch, Escherich. Ich bin doch ein reiner Garnichts, den niemand lieben kann. Aber hassen, hassen tun mich viele.«
»Ich weiß nicht, ob das Hass ist bei deiner Frau, ich glaube, sie will nur Ruhe vor dir haben. Du störst sie …«
»Die Pistole ist doch noch gesichert, Kommissar?«
»Ja«, antwortete der Kommissar verwundert, dass Kluge, der die letzte Viertelstunde ganz ruhig geworden war, plötzlich wieder so aufgeregt fragte. »Ja, die ist noch immer gesichert … Was zum Teufel?«
Die Pistole zündete mit ihrem Mündungsfeuer so nahe an seinen Augen vorbei, dass er ächzend auf den Steg zurückfiel; immer im Gefühl, geblendet zu sein, presste er die Hände vor die Augen.
Der Kluge flüsterte an seinem Ohr: »Ich wusste es, sie war nicht gesichert! Wieder einmal wolltest du mich betrügen! Und jetzt bist du in meiner Hand, jetzt kann ich dir deine Ruhe und Freiheit geben …« Er hielt den Pistolenlauf gegen die Stirn des Stöhnenden, er kicherte: »Fühlst du, wie kalt das ist? Das ist die Ruhe und der Frieden, das ist das Eis, in dem wir begraben sein werden, immer und immer …«
Der Kommissar richtete sich ächzend auf. »Hast du das mit Absicht getan, Kluge?«, fragte er streng und riss die wundbrennenden Lider hoch von den schmerzenden Augen. Ihm war, als sähe er den anderen neben sich wie einen schwärzeren Klumpen in all dem Nachtdunkel.
»Ja, mit Absicht«, kicherte der Kleine.
»Das war ein Mordversuch!«, sagte der Kommissar.
»Aber du hast doch gesagt, die Waffe ist gesichert!«
Jetzt war der Kommissar ganz sicher, dass seinen Augen nichts geschehen war.
»Ich werde dich ins Wasser schmeißen, du Lump! Das ist dann nur Notwehr!« Und er packte den Kleinen bei der Schulter.
»Nein, nein, bitte nicht! Bitte das nicht! Ich werde das andere auch bestimmt tun! Nur nicht ins Wasser! Du hast es mir heilig versprochen …«
Der Kommissar hatte ihn bei der Schulter gepackt.
»Ach was! Jetzt keine Winseleien mehr! Du hast doch nie die Courage dazu! Ins Wasser …!«
Zwei Schüsse fielen rasch hintereinander. Der Kommissar fühlte, wie der Mann zwischen seinen Fäusten zusammenfiel, er sackte in sich, unaufhaltsam. Einen Augenblick machte Escherich eine Bewegung, als er den Toten über den Stegrand ins Wasser rutschen sah. Seine Hände wollten ihn noch halten.
Und achselzuckend sah der Kommissar zu, wie der schwere Körper ins Wasser klatschte und sofort verschwand.
»Besser so«, sagte er und befeuchtete die trockenen Lippen. »Weniger Verdachtsmaterial.«
Einen Augenblick stand er noch, zweifelnd, ob er die auf dem Steg liegende Pistole ins Wasser stoßen sollte oder nicht. Dann ließ er sie liegen. Er ging langsam vom Bootssteg, den Uferhang hinan, nach dem Bahnhof zu.
Der Bahnhof war geschlossen, der letzte Zug abgefahren. Der Kommissar schickte sich gleichmütig an, den weiten Weg nach Berlin unter seine Füße zu nehmen.
Eben fing die Uhr wieder an zu schlagen.
Mitternacht, dachte der Kommissar. Er hat’s geschafft. Mitternacht. Bin neugierig, wie ihm sein Friede gefallen wird, wirklich neugierig. Ob er sich wieder betrogen vorkommt? Aas, kleines, winselndes Aas!
DRITTER TEIL – Das Spiel steht gegen die Quangels
Die Hergesells fuhren mit dem Zuge von Erkner nach Berlin. Jawohl, es gab keine Trudel Baumann mehr, Karls andauernde Liebe hatte gesiegt, sie hatten geheiratet, und jetzt, im Jahre des Unheils 1942, war Trudel im fünften Monat schwanger.
Mit der Heirat hatten die beiden auch ihre Arbeit in der Uniformfabrik aufgegeben – nach dem bedrückenden Erlebnis mit Grigoleit und dem Säugling hatten sie sich dort nie mehr wohl gefühlt. Er arbeitete jetzt bei einer chemischen Fabrik in Erkner, während Trudel als Hausschneiderin ein paar Mark dazuverdiente. Mit leiser Scham dachten sie an die Zeit ihrer illegalen Betätigung zurück. Beide waren sie sich völlig klar darüber, dass sie versagt hatten; beide aber wussten sie jetzt auch, dass sie sich für eine derartige Tätigkeit, die eine völlige Zurückstellung des eigenen Ichs erforderte, nicht eigneten. Jetzt lebten sie nur noch für ihr häusliches Glück und genossen die Vorfreude auf das zu erwartende Kind.
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