»Das sind die Nerven«, sagte der Kommissar. »Sie müssten ein anderes Leben führen, Kluge, dies Leben halten Ihre Nerven nicht aus. Also setzen wir uns dort auf den Bootssteg. Haben Sie keine Bange, ich fass Sie nicht wieder an, wenn Sie solche Angst vor mir haben.«
Sie gingen auf den Bootssteg zu. Das Holz knarrte, als sie ihn betraten. »Noch ein paar Schritte«, ermunterte Escherich. »Am besten setzen wir uns auf die Spitze. Ich sitze gern auf so ’nem Dings, nur Wasser um mich …«
Aber wieder weigerte sich Kluge. Er, der eben noch einen Anflug von entschlossenem Mut gezeigt hatte, fing plötzlich zu wimmern an: »Ich gehe nicht weiter! Oh, haben Sie doch Erbarmen mit mir, Herr Kommissar! Ersäufen Sie mich nicht! Ich kann nicht schwimmen, ich sage es Ihnen gleich! Ich habe immer solche Angst vor dem Wasser gehabt! Ich will Ihnen jedes Protokoll unterschreiben! Hilfe! Hilfe! Hil…«
Der Kommissar hatte den kleinen Kerl gepackt und trug den Zappelnden an das Ende des Stegs. Das Gesicht Ennos hatte er fest gegen seine Brust gedrückt, so fest, dass Kluge nicht weiterschreien konnte. So trug er ihn bis zum Ende des Stegs und hielt ihn dort nahe über das Wasser.
»Wenn du noch einmal schreist, du Hund, werde ich dich hineinwerfen!«
Ein tiefes Schluchzen entrang sich Ennos Kehle. »Ich werde nicht schreien«, sagte er flüsternd. »Ach, ich bin ja doch hin, werfen Sie mich doch rein! Ich halte das nicht mehr aus …«
Der Kommissar setzte ihn auf den Steg und nahm neben ihm Platz.
»So«, sagte er. »Und nachdem du nun gesehen hast, dass ich dich in den See werfen kann und tu’s doch nicht, wirst du wohl begreifen, dass ich kein Mörder bin, Kluge?«
Kluge murmelte etwas Unverständliches. Seine Zähne schlugen laut gegeneinander.
»So, und nun hör zu. Ich hab dir was zu sagen. Das mit dem Mann, den du hier in Schlachtensee erkennen sollst, das ist natürlich Schwindel.«
»Aber warum?«
»Warte ab. Und ich weiß auch, dass du mit dem Postkartenschreiber nichts zu tun hast; ich habe geglaubt, es wäre mit dem Protokoll gut, dass ich wenigstens für meine Vorgesetzten eine Spur hätte, bis ich den richtigen Täter gefasst habe. Aber es war nicht gut. Sie wollen dich jetzt haben, Kluge, die hohen Herren von der SS, und sie wollen dich vornehmen auf ihre Weise. Sie glauben an das Protokoll, sie halten dich für den Schreiber oder doch für seinen Verteiler. Und sie werden das schon aus dir rausquetschen, sie werden alles, was sie wollen, mit ihren Verhören aus dir rausquetschen, sie werden dich auspressen wie eine Zitrone, und dann werden sie dich totschlagen oder vor den Volksgerichtshof bringen, und das läuft auf dasselbe hinaus, nur dass die Quälerei noch ein paar Wochen länger dauert.«
Der Kommissar machte eine Pause, und der völlig verängstigte Enno schmiegte sich jetzt zitternd an den, den er eben noch »Mörder« genannt, als suche er Hilfe bei ihm.
»Sie wissen, ich bin’s nicht gewesen!«, stotterte er. »Heilig wahr! Sie können mich nicht zu denen hinbringen, ich halte das nicht aus, ich schreie …«
»Gewiss wirst du schreien«, bestätigte der Kommissar gleichmütig. »Natürlich tust du das. Aber das kümmert die nicht, das macht denen nur Spaß. Weißt du, Kluge, sie werden dich auf einen Schemel setzen und einen ganz scharfen Scheinwerfer direkt vor deinem Gesicht aufstellen, und du musst immer in das Licht starren und wirst vor Hitze und Helle vergehen. Und dabei werden sie dich fragen, Stunden um Stunden werden sie dich befragen, einer wird den anderen ablösen, aber dich wird keiner ablösen, du magst noch so müde sein. Und wenn du vor Erschöpfung umfällst, so werden sie dich mit Fußtritten und Peitschenhieben hochjagen, und sie werden dir Salzwasser zu trinken geben, und wenn das alles nichts mehr hilft, werden sie dir jeden Gelenkknochen an den Fingern einzeln ausdrehen. Sie werden Säure auf deine Füße gießen …«
»Hören Sie auf, ach, bitte, hören Sie doch auf, ich kann das nicht anhören …«
»Du wirst es nicht nur anhören, du wirst es aushalten müssen, Kluge, einen Tag, zwei, drei, fünf Tage – immer, Tag und Nacht, und dabei werden sie dich hungern lassen, dass dein Magen zusammenschrumpft wie eine Bohne, dass du vor Schmerzen innen und außen umzukommen meinst. Aber du wirst nicht umkommen; so leicht lassen die einen, den sie mal in ihren Fängen haben, nicht los. Sondern sie werden dich …«
»Nein, nein, nein«, schrie der kleine Enno und hielt sich die Ohren zu. »Ich will nichts mehr hören! Kein Wort mehr! Dann lieber gleich tot!«
»Ja, das denke ich auch«, bestätigte der Kommissar. »Dann lieber gleich tot!«
Eine Zeit lang herrschte tiefstes Schweigen zwischen beiden.
Dann sagte der kleine Enno Kluge plötzlich zusammenschauernd: »Aber ins Wasser gehe ich nicht …«
»Nein, nein«, sagte der Kommissar gütig zuredend. »Das sollen Sie auch nicht, Kluge. Sehen Sie, ich habe Ihnen hier was anderes mitgebracht, sehen Sie nur, so ’ne hübsche kleine Pistole. Die brauchen Sie nur gegen die Stirn zu drücken, haben Sie keine Angst, ich werde Ihnen die Hand halten, dass sie nicht zittert, und dann machen Sie den Finger nur ein klein bisschen krumm … Sie werden keinen Schmerz spüren, plötzlich sind Sie weg von all diesen Quälereien und Verfolgungen und haben endlich mal Ruhe und Frieden …«
»Und die Freiheit«, sagte der kleine Enno Kluge nachdenklich. »Das ist genauso, Herr Kommissar, wie Sie mich damals mit dem Protokoll überredet haben, auch damals haben Sie mir die Freiheit versprochen. Ob’s diesmal wahr sein wird? Was meinst du?«
»Aber natürlich, Kluge. Das ist die einzige wirkliche Freiheit, die für uns Menschen in Frage kommt. Da kann ich dich nicht wieder einfangen und von neuem ängstigen und quälen. Keiner kann das mehr. Du wirst uns alle auslachen …«
»Und was wird hinterher kommen, hinter der Ruhe und Freiheit? Wird’s da noch was geben, hinterher? Was glaubst du?«
»Ich glaub nicht, dass noch was hinterherkommt, kein Strafgericht und keine Hölle. Nur Ruhe und Freiheit wird’s da geben.«
»Und wozu hab ich denn gelebt? Warum habe ich dann hier so viel aushalten müssen? Ich hab doch nichts getan, keinem Menschen habe ich zur Freude gelebt, nie habe ich jemanden wirklich gern gehabt.«
»Tja«, meinte der Kommissar, »ein großer Held bist du nicht gewesen, Kluge. Und irgendwie nützlich hast du dich wohl auch nicht gemacht. Aber warum willst du jetzt darüber nachdenken? Jetzt ist es unter allen Umständen zu spät, ob du das nun tust, was ich dir vorschlage, oder ob du mit mir zur Gestapo gehst. Ich sage dir, Kluge, in der ersten halben Stunde schon wirst du auf den Knien um eine Kugel betteln. Aber es wird viele, viele halbe Stunden dauern, bis sie dich aus deinem Leben zum Tode gequält haben …«
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